Heilige Wissenschaft?

Weltmeister aller Klassen

Da Wissenschaft sich der Rationalität fügen muss, ist nicht a priori ausgeschlossen, dass andere kognitive Unterfangen der Wissenschaft rational ebenbürtig oder überlegen sind. Dies stellt für letztere eine permanente Bedrohung dar, da sie behauptet, in Sachen Rationalität unumstritten den ersten Rang einzunehmen, ihn aber nicht per Dekret sichern darf.[1]

Verlöre sie diesen Sonderstatus, fiele sie in sich zusammen wie ein Soufflé. Die starke Neigung, Wissenschaft mit Rationalität begrifflich in eins zu setzen, dient auch dem Zweck, etwaige Konkurrenz per definitionem als irrational klassifizieren und neutralisieren zu können. Implizit erklären sich Wissenschaftler damit zu Verkörperungen der Rationalität.

Wertfrei wertvoll

Obwohl die moderne Wissenschaft nach eigenem Bekunden moralisch wertfrei ist, verdankt sie ihr Ansehen einem ausgeprägten Halo-Effekt, der darin besteht, von ihrer behaupteten rationalen Überlegenheit gewohnheitsmäßig auf ihre moralische Überlegenheit zu schließen, die sich wiederum daraus ergebe, dass sie „gut für uns alle“ sei. Sehr oft wird sie nicht nur mit optimalem Verstandesgebrauch, sondern auch mit Vernunft im „fettgedruckten“ Sinn gleichgesetzt, welche die ethische Dimension umfasst.[2] Doch der moralische Vorzug, „gut für uns alle“ zu sein, versteht sich bestenfalls in ethischen Systemen von selbst, in denen das moralisch Gute eine Funktion des nichtmoralisch Guten ist.[3] Diese Systeme sind anderen ethischen Systemen nicht prinzipiell überlegen, also auch nicht besonders zwingend. 

Die assoziative Verbindung von „Wissenschaft“, „Vernunft“, „Aufklärung“, „Humanismus“, „Fortschritt“, „bessere Welt“, „Glück“, „Wohlfahrt“, „moralische Vorzüglichkeit“ ist nach wie vor sehr eng und wird mit bemerkenswertem Pathos vorgetragen. Personen, die solche Assoziationen verinnerlicht haben, fühlen sich entsprechend überlegen und sind stolz auf ihr „rational-kritisches Weltbild“. Ohne ein verbindendes nicht-rationales Element, ohne eine Art religiöser Verzückung, ohne Glaubenssätze, ohne Heldensagen, Heilige und Märtyrer, ohne erhebende Gemeinschaftserlebnisse, ohne Definition einer feindlichen Gruppe von Ungläubigen und Ketzern kommen aber auch Freunde der Wissenschaft selten aus. Gruppenmoral übertrumpft auch bei ihnen fast immer die eigenständige Reflexion.

Unerschütterlich

Selbst das maßgeblich von Wissenschaftlern initiierte und gestützte globale Coronaregime schadet dem guten Image der Wissenschaft nicht, obwohl dieses Regime die ganze Welt in einen Abgrund tiefsten Elends und beständigen Totalitarismus zu ziehen droht. Kaum jemand kommt angesichts des derzeitigen Menschenvernichtungswerks im Namen der Seuchenbekämpfung auf den Gedanken, dass die Wissenschaft als solche daran nicht unschuldig sein könnte. Denn dieser Gedanke würde es schwierig machen, sich weiter mit ihr zu identifizieren. 

Befürworter wie Gegner der strikten Corona-Maßnahmen reklamieren sie daher nur umso verbissener für sich. Das pointenlose Gezänk über den Besitz der wirklichen Wirklichkeit setzt sich fort im sinnlosen Streit darüber, wer die wahre Wissenschaft sein Eigen nennen darf und wer als Pseudowissenschaftler zu gelten hat. 

Selbst wenn es leicht möglich wäre, Wissenschaft von Pseudowissenschaft zu unterscheiden, bliebe noch immer unklar, worin der moralische Vorzug „echter“ Wissenschaft gegenüber der „falschen“ bestehen soll. Wissenschaftsfreunde beschweren sich zwar lautstark, dass Pseudowissenschaft Betrug sei und Schaden anrichte. Das Gleiche ließe sich pauschal aber auch über die Wissenschaft sagen, denn Betrug und Manipulation[4] kommen in der Wissenschaftspraxis bemerkenswert häufig vor.[5]

Heilig, heilig, heilig …

Wenn nicht immerzu bestätigt wird, dass Wissenschaft durchweg auch in moralischer Hinsicht allen anderen Erkenntinsweisen überlegen ist, sind ihre „Fans“ enttäuscht. An einer bloß deskriptiven Abgrenzung sind sie nicht interessiert. Beschwören Akteure im Streit um Corona die Wissenschaft, nutzen sie oft bloß den erwähnten Halo-Effekt, um sich selbst heiligzusprechen. Sie wollen damit folgende Assoziationskette um jeden Preis verteidigen: „Wissenschaft = Vernunft = Fortschritt = gut für uns alle = wir sind die Besten“. 

Dahinter wird ein horror vacui erkennbar, der sich aus dem ergibt, was eingangs erwähnt wurde. Wenn Wissenschaft gar nichts Besonderes, gar nichts Besseres wäre, dann wären Wissenschaftler und alle, die sich mit der Wissenschaft schmücken, ebenfalls nichts Besseres. Ihre Interessensverbände wären an sich nicht bedeutender als jeder x-beliebige Kaninchenzuchtverein oder spirituelle Gesprächskreis. 

Unterscheidungen zwischen echter Wissenschaft und Pseudowissenschaft wurden in der Vergangenheit immer getroffen, um auserwählte Lieblingsfeinde aus dem Feld zu schlagen. So hat zum Beispiel Karl Popper (1902–1994) den Kritischen Rationalismus ersonnen, um Marxismus und Psychoanalyse in den Orkus zu befördern. Sein Abgrenzungskriterium war allerdings genauso untauglich wie alle anderen zuvor.[6] Es geht bei solchen Versuchen immer auch um Distinktion von Personen: Ihr Dummen da unten, wir Klugen hier oben. Und natürlich: Ihr Bösen, wir Guten.

Wissenschaft ist auch nur ein Mensch

Spätestens seit Auguste Comte (1798–1857) versucht eine von Religion bereits getrennte Wissenschaft, auch die sinnstiftende Funktion und den absoluten Wahrheitsanspruch der Religion zu erfüllen, ist dazu aber im wahrsten Sinne nicht berufen.[7] Sie überkompensiert dieses Defizit, indem sie alles außer sich selbst zu zerstören trachtet, damit niemandem mehr auffällt, wie dürftig ihre Identifikationsangebote sind. 

Wissenschaft sollte nüchtern als Problemlösungsstrategie aufgefasst werden. Sinn vermag sie nicht zu stiften. Als Mittel gegen ihre Überhöhung empfiehlt sich, sie so zu betrachten, wie sie als Ganze erscheint, das Ideal wegzulassen und sie nicht mit etwas anderem gleichzusetzen, zum Beispiel mit Technik. Technik kommt als solche auch ohne Wissenschaft aus, aber Wissenschaft nicht ohne Technik, schon gar nicht die moderne Wissenschaft seit Galilei. Laut Peter Janich (1942–2016) ist Wissenschaft „Hochstilisierung von Lebenspraxen“, moderne Wissenschaft im Prinzip hochgezüchtete und -stilisierte Technik.[8]Wissenschaftlicher Fortschritt hängt weit mehr vom technischen ab als der technische vom wissenschaftlichen. „Es ist in der Tat keine Übertreibung, wenn man sagt, daß die Laboratoriumswissenschaft, wie wir sie kennen, ein Anhängsel der industriellen Revolution – eine Frucht deren technologischer Blüte – ist“[9], merkt Nicholas Rescher an. 

Betrachtet man die Wissenschaft mit etwas mehr Abstand, besteht kein Grund, sie für rational unanfechtbar und für uneingeschränkt gut zu halten. Ihre grundlegenden Prinzipien sind kaum ohne Zirkelschluss begründbar, ihre Methoden sind recht beliebig, ihre Praxis besteht in signifikantem Ausmaß[10] aus Unsinn, Manipulation und Betrug, ihr Personal ist nicht besonders vertrauenswürdig. Von organisiertem Zweifel und strukturierender Skepsis kann über weite Strecken kaum die Rede sein. Auf Versuche von Wissenschaftlern, sich mit rhetorischen Tricks für unfehlbar zu erklären, sollte man nicht hereinfallen. 

Fazit

In Debatten über gesellschaftliche Probleme ist es wenig sinnvoll, sich abstrakt auf „die Wissenschaft“ zu berufen und deren Loblied zu singen. Es wäre viel gewonnen, wenn die Menschen einfach wüssten, was sie tun, und die Menschenwürde der anderen achteten. Menschenwürde ist kein wissenschaftliches Prinzip, sondern ergibt sich logisch aus der menschlichen Fähigkeit zu Wünschen höherer Ordnung.[11] Menschen können über ihre eigenen Belange selbst bestimmen.[12] Sie haben daher ein Recht darauf, vor Angriffen von organisierten Wahrheitsbesitzern geschützt zu werden, die über sie verfügen wollen. Ob solche Angriffe als wissenschaftlich, pseudowissenschaftlich oder parawissenschaftlich zu gelten haben, spielt keinerlei Rolle. Sie sind in jedem Falle unberechtigt.


[1] Genau das tut sie aber de facto sehr häufig.

[2] Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, S. 45.

[3] Vgl. William K. Frankena, Analytische Ethik, München 1972, S. 32 ff.

[4] Der Mathematiker Charles Babbage (1791–1871) hat bereits im 19. Jahrhundert zwischen Trimming, Cooking und Forging unterschieden. „Trimming“ bezeichnet die illegitime Glättung von Unregelmäßigkeiten; „Cooking“ bedeutet, nur Ergebnisse zu referieren, die die These bestätigen, und andere wegzulassen; „Forging“ meint manifesten Betrug, also Erfinden von Studienergebnissen und ähnliches. Dies kann man derzeit sozusagen live und in Farbe bestaunen, weil Wissenschaftler im Coronaregime kaum negative Konsequenzen zu befürchten haben und entsprechend wenig Mühe darauf verwenden, ihr Treiben zu vertuschen. Viele zur Begründung strengster Maßnahmen herangezogene Studien wirken insgesamt wie ein globaler Fortbildungskurs in Datenmassage. Schon vor Corona waren die meisten klinischen Studien wertlos, seit Corona ist ihr wissenschaftlicher Wert sicher noch gefallen, ihr propagandistischer Wert jedoch immens gestiegen. Vgl dazu Jon Jureidini/Leemon B. McHenry, The Illusion of Evidence-Based Medicine, Mile End 2020.

[5] Vgl. Horace Freeland Judson, The Great Betrayal, Boston 2004; vgl. Stuart Richie, Science Fictions, New York 2020; vgl. William Broad/Nicholas Wade, Betrug und Täuschung in der Wissenschaft, Basel/Boston/Stuttgart 1984; vgl. Heinrich Zankl, Fälscher, Schwindler, Scharlatane, Weinheim 2003; Vgl. Michael Brooks, Freie Radikale, Berlin-Heidelberg 2014; Vgl. zu Betrugsfällen jüngeren Datums in Deutschland, Marco Finetti/Armin Himmelrath, Der Sündenfall, Berlin 2012. 

[6] Vgl. Larry Laudan, The Demise of the Demarcation Problem, S. 111–127.

[7] Bei Comte war die Wissenschaft die Soziologie und die Religion der Positivsmus. Vgl. Wolf Lepenies, Auguste Comte, Müchen 2010.

[8] Vgl. Peter Janich, Handwerk und Mundwerk, München 2015.

[9] Nicholas Rescher, Studien zur naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre, Würzburg 1996, S. 127.

[10] „Signifikant“ im Sinne von: zu auffällig, um zufällig zu sein.

[11] Vgl. Harry G. Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung, Berlin 2001.

[12] Vgl. Dietmar von der Pfordten, Menschenwürde, München 2016, S. 59ff.

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