Anfang des Jahres 2022 hatte Karl Lauterbach eine „philosophische Phase“, in welcher er kurz hintereinander Hegel und Kant bemühte, um die Coronamaßnahmen sowie im Speziellen die Impfpflicht zu begründen. Während er von Hegel lediglich einen Satz zitierte, den Hegel nie geäußert hatte, wurde er bei Kant etwas konkreter. Wer die Impfung verweigere, verstoße gegen den Kategorischen Imperativ. Gemeint ist die Gesetzesformel desselben, welche lautet:
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde.
Lauterbach erläutert diese Formel selbst in seiner Doktorarbeit auf Seite 33. Eine Maxime ist Kant zufolge ein Prinzip des Willens, nicht eine einzelne Handlung oder ein bloßer Wunsch. Verallgemeinerbar müssen die Maximen sein, die der jeweiligen Handlung zugrundeliegen. Maximen sind abstrakter als Handlungen. Nur so ergibt der Kategorische Imperativ Sinn. Wenn ich heute im 23 Uhr schlafen gehe, braucht diese Handlung nicht allgemeines Gesetz werden zu können, um moralisch korrekt zu sein.
Kategorisch oder hypothetisch?
Nun meint Lauterbach, dass eine Verweigerung des Impfangebots „nie die Maxime des Handelns für uns alle sein“ könne. „Wenn wir uns alle weigern würden, die gut erforschte und nebenwirkungsarme Impfung zu nutzen, um uns selbst vor Tod und schwerer Krankheit zu schützen, würden wir die Pandemie wahrscheinlich nie beenden können.“
Die Verweigerung eines konkreten Impfangebots kann tatsächlich nie die Maxime des Handelns für uns alle sein, und zwar deshalb, weil sie nicht abstrakt genug ist. Lauterbach müsste also erst einmal eine Maxime formulieren. Das tut er aber nicht. Statt eines kategorischen Imperativs formuliert er einen hypothetischen Imperativ. Mit der Impfung soll die Pandemie beendet werden. Der Imperativ des Gesundheitsministers lautet also schlicht: „Lasst euch impfen, wenn ihr die Pandemie beenden wollt.“
Mit Kant hat das überhaupt nichts zu tun. Denn laut Kant ist ein Imperativ nur kategorisch, wenn er frei von aller Empirie ist. Es geht nur darum, ob eine Maxime überhaupt zum Gesetz taugt, da sie andernfalls nicht verbindlich ist. Zum Gesetz taugt sie nur dann, wenn sie ohne logischen Widerspruch gedacht oder gewollt werden kann. Kann sie nicht gedacht werden, verletzt sie strenge Pflichten; kann sie nicht gewollt werden, verletzt sie minder strenge Pflichten.
Lauterbachs Maxime – die er uns nicht mitteilt – kann sich nur auf die weniger strengen Pflichten beziehen, denn er will ganz offenbar sagen, dass allgemeine Verweigerung von Covid-Impfstoffen nicht ohne logischen Widerspruch gewollt werden kann. Konsistent denken lässt sie sich allemal. Es wäre nun interessant zu erfahren, wo ein Widerspruch zur ungenannten Maxime vorhanden ist, der es unmöglich macht, die Covid-Impfung nicht zu wollen. Doch dazu schweigt der Minister.
Geht es lediglich um den Zweck, die Pandemie zu beenden, ist kein Platz für kategorische Imperative. Dann diskutiert man über diesen Zweck im Hinblick auf andere Zwecke sowie über geeignete Mittel. Was letzteres betrifft, gibt es sicher bessere Mittel als die Massenimpfung. Lauterbach könnte zum Beispiel zusammen mit der Regierung die Pandemie für beendet erklären oder sich auf präzisere Messmethoden stützen, was die Infektionsraten betrifft (siehe hier, S. 37 ff). Dann wäre die Pandemie sofort verschwunden. Lauterbach brauchte also nur die Resultate von John Ioannidis anzuerkennen, anstatt letzteren als „extrem umstritten“ abzuqualifizieren. Der Kategorische Imperativ ist jedenfalls das Abseitigste, was man in diesem Zusammenhang bemühen kann.
Bock und Melker
Man fragt sich also, was der Bezug auf Kant überhaupt soll. Denn um es für ein triftiges Argument halten zu können, dass die Impfverweigerung gegen den Kategorischen Imperativ verstößt, muss man erst einmal die Kant’sche Ethik für triftig halten. Um dies zu können, muss man Kants Ethik aus eigenem Studium kennen. Das dürfte aber nur bei sehr wenigen Bürgern der Fall sein. Wer keinen Schimmer hat, mag also zu Recht erwidern: „Kant? Kenn ich nicht. Mir doch egal, was irgendein Typ ausgebrütet hat!“ Unter den Sachkundigen wiederum gibt es viele, die der Kant’schen Ethik ablehnend gegenüberstehen. Dort kann ebenfalls keine große Fangemeinde rekrutiert werden. Die Behauptung Lauterbachs wäre also nur für diejenigen von Bedeutung, welche die Kant’sche Ethik sachkundig anerkennen.
Lauterbach wollte aber gewiss nicht das kleine Häuflein kompetenter Kantianer überzeugen, die es im Lande noch gibt. Diese würden aller Wahrscheinlichkeit nicht einmal müde lächeln. Schließlich ist seine Behauptung nichts anderes als das säkulare Pendant zum Spruch „Jesus hätte sich impfen lassen“, über welchen alle Hohlköpfe mit „rational-aufklärerischem Weltbild“ gerne die Nase rümpfen. Genau bei diesen Halbgebildeten will Lauterbach anscheinend Eindruck machen.
Gibt man dieser großen und medial präsenten Schar etwas, womit sie sich überlegen fühlen kann, fällt sie klügelnd über alle anderen her – vor allem in den sozialen Netzwerken. Das hat schon hervorragend mit dem „exponentiellen Wachstum“ funktioniert, von welchem „Coronaleugner“ vermeintlich nichts verstehen. Nun – o Sünde – verstehen sie noch nicht einmal etwas vom Kategorischen Imperativ. Untergang des Abendlandes! Dabei dürfte kaum einer von ihnen jemals nur eine Zeile aus einem Origninalwerk Kants gelesen haben. Der philosophierende Gesundheitsminister und seine imaginären Getreuen geben also – um Kant selbst zu zitieren – den „belachenswerthen Anblick […], daß einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andre ein Sieb unterhält.“
Niemals lügen!
Lauterbach hat den Kategorischen Imperativ nicht bemüht, um die Menschheit neutral darüber zu informieren. Er identifiziert sich auch verbal mit selbigem. Die Frage ist aber, wie er dies mit seinem eigenen Tun in Einklang bringen will. Berühmt-berüchtigt ist nämlich Kants vollständige Absage an das Lügen. Hier zeigt sich die unerbittliche Strenge des Kategorischen Imperativs. Eine Welt, in der alle lügen, ist im wörtlichen Sinne undenkbar. Der Begriff der Lüge setzt Wahrheit voraus. Lügen bedeutet, bewusst die Unwahrheit zu sagen. Wenn jeder lügt, gibt es keine Wahrheit mehr, womit es auch keine Lüge mehr gibt. Sein Ziel erreicht der Lügner nur, wenn er als Parasit der Wahrhaftigen agiert. Lügen kann man nur dort, wo es die Nichtlüge gibt. Weil es als Maxime nicht einmal gedacht werden kann, ist Lügen eine Verletzung strenger Pflichten. Kant zieht daraus die Konsequenz, dass Lügen niemals, unter keinen Umständen statthaft ist. Das gilt auch für jegliches „Lügen aus Menschenliebe“.
Allein durch seine Karriere als Politiker gerät Lauterbach in begründeten Verdacht, sich nicht wirklich mit dem Kategorischen Imperativ zu identifizieren, obwohl dieser beim Thema Lügen logisch am stringentesten ist. Auf die Frage eines Interviewers, was falsch daran sei, die Wahrheit zu sagen, antwortete Lauterbach:
Die Wahrheit führt in sehr vielen Fällen zum politischen Tod, ich bitte Sie!
Er spricht hier erfrischend ehrlich aus, was der Fall ist, ohne sich expressis verbis damit zu identifizieren. Das „Ich bitte Sie“ kann so etwas wie „Seien Sie doch nicht so naiv!“ bedeuten – vielleicht auch: Così fan tutte – So machen es alle. Es könnte zwar sein – und ich bin auch davon überzeugt – dass er sich damit selbst zum Lügen lizenziert. Doch das geht nicht eindeutig aus seinem Statement hervor.
Wenn die Wahrheit zu sagen nur in sehr wenigen Fällen nicht zum politischen Tod führt, erscheint aber erklärungsbedürftig, warum ausgerechnet Lauterbach zum Minister aufgestiegen ist, obwohl er immer und überall die Wahrheit sagen muss, wenn er dem Kategorischen Imperativ folgen will. Hat er einfach Glück gehabt? Schützt ihn der Torheit Schild? Oder hat er bisweilen geflunkert, um politisch zu überleben? Alle Lebenserfahrung und Menschenkenntnis spricht für letzteres. Würde Lauterbach mir weismachen wollen, er sei ohne eine einzige Lüge Minister geworden, würde ich ihm sein „Ich bitte Sie“ entgegenhalten. Alle „Aufgeklärten“ im Lande hingegen glauben ihm jedes Wort, denn er ist schließlich nicht nur der größte Mediziner und Epidemiologe, sondern auch der größte Kantianer aller Zeiten!
Das ist die Crux beim Kategorischen Imperativ: Er liegt leicht auf der Zunge, aber schwer im Magen. Ich hoffe, dass er Lauterbach eines Tages den Magen verderben wird.
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