Oft habe ich in letzter Zeit den Satz vernommen: „Erkläre nichts durch böse Absicht, was durch Dummheit hinreichend erklärt werden kann.“ Dieses Gebot wird „Hanlons Rasiermesser“ genannt, obwohl Hanlon wohl keine reale Person ist. Es wirkt auf den ersten Blick ansprechend, weil es eine allgemeine Erfahrung auszudrücken scheint. „Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit“, lautet das Motto von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Ich selbst habe dem Sprichwort spontan zugestimmt, bin dann aber ins Grübeln gekommen, ob es wirklich sinnvoll ist, der Dummheit statt der Bosheit einen derart hohen Stellenwert beizumessen. Schaut man genauer hin, ergeben sich starke Zweifel, ob diese Faustregel etwas taugt.
Unklares Explanandum
Mit der bösen Absicht und der Dummheit wird das Erklärende (Explanans) eindeutig benannt. Das zu Erklärende (Explanandum) bleibt jedoch nebulös. Was bedeutet „erkläre nichts …“? Ich verstehe es so, dass alles, was als Kandidat für böse Absicht in Frage kommt, eher mit Dummheit erklärt werden soll.
Erich Kästners Romanfigur Fabian ertrinkt bei dem Versuch, einen Jungen vorm Ertrinken zu retten. Fabian kann nicht schwimmen, der Junge hingegen schwimmt allein zum Ufer. Dieser Rettungsversuch kommt als Kandidat für Hanlons Rasiermesser nicht in Frage, weil potenziell böser Wille selbst beim bösesten Willen hier nicht zu erkennen ist.
Es bietet sich auf den ersten Blick an, den Rettungsversuch mit Dummheit zu erklären. Doch der Schein trügt. Fabian ist Moralist. Es könnte auch sein, dass er es im vollen Bewusstsein seiner Schwimmunfähigkeit wenigstens versuchen wollte, selbst wenn er dabei im wörtlichen Sinne untergeht. Der Versuch hätte dann als Übererfüllung der moralischen Pflicht zu gelten, wofür es das schöne Wort „Supererogation“ gibt. Diese wiederum kann nicht mit platter Dummheit gleichsetzt werden.[1]
Dummheit allein genügt nicht
Die Sache ist also kompliziert, wird aber noch komplizierter. In Hanlons Rasiermesser steht nämlich die böse Absicht auf der einen, die Dummheit auf der anderen Seite. Damit wird zumindest nahegelegt, dass sie einander ausschließen oder meist getrennt auftreten. Ob dumm oder klug – Menschen haben ohne Unterlass irgendwelche Absichten. Böse Absicht geht wahrscheinlich genauso oft mit Dummheit einher wie gute Absicht mit Klugheit et vice versa.
Pure Dummheit kann also gar nicht gemeint sein. Gemeint ist hier Dummheit plus gutem Willen. Hanlon hat also geschummelt. Mit böswilligen Dummköpfen weiß er nichts anzufangen, obwohl die Welt voll davon ist. Das wirft kein gutes Licht auf sein Rasiermesser.
Schärft man es, lautet der Satz: „Erkläre [im Hinblick auf das erklärte Ziel] negative Resultate nicht durch böse Absicht, wenn Dummheit plus gute Absicht hinreichen.“ Doch was soll die Dummheit noch in der Gleichung? Im Prinzip kann alles, was schief geht, hinreichend mit Dummheit plus guter Absicht erklärt werden. Man kann schließlich immer behaupten, die Beteiligten seien eben zu dumm gewesen, schädliche Konsequenzen ihres Tuns, Unterlassens oder Zulassens voll in den Blick zu nehmen, selbst wenn – wie beispielsweise beim Manhattan-Projekt – geniale Wissenschaftler beteiligt sind.
Jegliche negative Konsequenz menschlichen Handelns mit Dummheit zu erklären, führt den Begriff ad absurdum. Schon Gustave Flaubert scheiterte mit dem Vorhaben, seine Enzyklopädie der menschlichen Dummheit zu vollenden. Das lag meiner Meinung nach nicht nur daran, dass er über dem Werk verstarb. Er wurde damit vielleicht auch deshalb nicht fertig, weil er den Begriff „Dummheit“ zu weit fasste. So verblasst in seinem letzten Roman „Bouvard und Pécuchet“ sukzessive die Pointe. Das One Trick Pony der menschlichen Dummheit wird langsam, aber sicher zu Tode geritten. Flauberts unvollendetes „Wörterbuch der Gemeinplätze“ listet Phrasen auf, die ich mit Jeremy Bentham eher als „Unsinn auf Stelzen“ bezeichnen würde — nichtssagende oder unsinnige Bemerkungen, irgendwelche Behauptungen, die zu Sentenzen aufgebläht werden, um Eindruck zu schinden. Der Begriff „Dummheit“ ist dafür zu allgemein.
Science or not science …?
Da Gebote wie Hanlons Rasiermesser klug wirken, wird selten nachgefragt, worauf sie sich stützen. Es muss aber einen Grund außerhalb des Gebotes selbst geben, dieses zu befolgen. Wie wir sahen, reicht ein Hinweis auf die Allgegenwart der Dummheit nicht aus. Er regt – im Gegenteil – eher dazu an, die Dummheit zu ignorieren.
Zunächst sollte sie begrifflich von der Inkompetenz getrennt werden. Intelligente Menschen können in bestimmten Bereichen inkompetent, dumme Menschen in denselben oder anderen Bereichen kompetent sein. Der Philosoph Kuno Fischer war sozial inkompetent in Bezug auf die Präferenzen von Handwerkern, als er lärmenden Bauarbeitern drohte: „Meine Herren, wenn Sie weiterhin solchen Krach machen, nehme ich den Ruf an die Universität Heidelberg an!“ War er aber dümmer als die Bauarbeiter? Das glaube ich nicht. Sehr wahrscheinlich war er intelligenter als sie.
Hanlons Rasiermesser ist „Ockhams Rasiermesser“ nachgebildet, einem wissenschaftlichen Prinzip, welches besagt, dass von mehreren hinreichenden Erklärungen stets die mit der geringsten Anzahl an Variablen bevorzugt werden soll (Sparsamkeitsgebot). Dieses Gebot ist in der Wissenschaft nicht aufgrund seiner größeren Wahrheitsnähe rational, sondern nur aufgrund seiner Effizienz im Hinblick auf die jeweiligen Forschungsziele.
Indem Hanlons Rasiermesser sich als Variante oder Paraphrase jenes wissenschaftlichen Prinzips ausgibt, setzt es zugleich einen wissenschaftlichen Standard. Um diesem Standard gerecht zu werden, müssten diejenigen, welche sich darauf berufen, die verwendeten Begriffe messbar machen. Davon ist aber weit und breit nichts zu sehen.
Dabei wäre es bezüglich der Dummheit sogar recht einfach. Man entscheidet sich für ein gebräuchliches Intelligenztestverfahren und definiert „Dummheit“ als signifikant unterdurchschnittlichen IQ, zum Beispiel einen Wert unter 85 Punkten. Wichtig: Menschen mit diesem IQ sind aus wissenschaftlicher Sicht dann auch „wirklich“ dumm, weil Intelligenz/Dummheit durch den Test definiert ist. Tertium non datur.
Man könnte auch vom höchsten gemessenen IQ (230) ausgehen und alle Personen mit einem niedrigeren IQ als dumm klassifizieren. Dieser Höchstwert ist aber extrem selten. Ihn zu verwenden wäre nicht sinnvoll, da man die so verstandene „Dummheit“ aufgrund ihrer Ubiquität besser aus der Gleichung nimmt, um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen.
Versuchen wir es also mit einer noch präziseren Formulierung von Hanlons Rasiermesser: „Erkläre ein negatives Resultat nicht durch böse Absicht bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz, wenn auch ein signifikant unterdurchschnittlicher IQ bei gutem Willen hinreichend ist.“
Bedingung der Möglichkeit, Dummheit (plus guten Willen) als hinreichendes Explanans zu nutzen, wäre nun der exakte wissenschaftliche Nachweis, dass die betreffenden Personen im genannten Sinne dumm sind, also entweder jeder Betroffene, Beteiligte oder Verantwortliche einen unterdurchschnittlichen IQ hat oder der Gesamt-IQ aller Betroffenen, Beteiligten oder Verantwortlichen unter dem Durchschnitt liegt.
Zuvor müsste die Grundgesamtheit definiert werden – zum Beispiel alle Bürger, alle Betroffenen, alle Beteiligten, alle Funktionsträger o.ä. Diese Grundgesamtheit müsste ebenfalls exakt umrissen werden, um eine repräsentative Stichprobe extrahieren und deren IQ messen zu können. Wenn die Grundgesamtheit sehr klein ist, kann auch der IQ jedes einzelnen Mitglieds gemessen werden. Danach würden die Ergebnisse mit dem Durchschnitt verglichen.
Ergäbe dieser Vergleich, dass die betreffenden Personen im exakten Sinne dümmer sind als der Durchschnitt, wäre allerdings noch immer nicht nachgewiesen, dass die wissenschaftlich festgestellte Dummheit im konkreten Fall x Ursache des negativen Resultates ist. Man hätte nur festgestellt, dass die Leute tatsächlich dumm sind. Außerdem müsste noch die gute Absicht exakt definiert, messbar gemacht und zusätzlich empirisch nachgewiesen werden. Meines Wissens gibt es keinerlei Untersuchungen dieser Art. Sie wären auch sehr schwierig und kompliziert, vielleicht sogar unrealisierbar.
Plausibilität genügt
Ich habe so ausführlich über das wissenschaftliche Prozedere geschrieben, um deutlich zu machen, was es in der Praxis bedeuten würde, in dieser Frage ernsthaft die Prinzipien der empirischen Wissenschaft anzuwenden. Selbstverständlich braucht im Falle von Hanlons Rasiermesser niemand solche komplizierten statistischen Erhebungen. Bloße Plausibilität reicht aus.
Nehmen wir als Beispiel die Corona-Maßnahmen. Sie nützen nichts im Hinblick auf den Seuchenschutz und die Gesundheit der Gesamtbevölkerung, schaden aber in beträchtlichem Maße. Man braucht keine empirischen Untersuchungen, um mit Recht zu vermuten, dass die Verantwortlichen – die beratenden Experten, die Abgeordneten in Parlamenten und Ausschüssen, die Mitarbeiter im Robert Koch-Institut, im Paul-Ehrlich-Institut, in den Gesundheitsämtern und so weiter – weder einzeln noch in der Summe einen signifikant unterdurchschnittlichen IQ haben.
Es mag der eine oder andere dabei sein, der im unteren Bereich der Normalverteilung rangiert; es gibt in der Grundgesamtheit aber sicher auch eine ganze Reihe überdurchschnittlich intelligenter Personen. Ich nehme stark an, dass der durchschnittliche IQ aller Verantwortlichen eher über dem allgemeinen Durchschnitt liegt.
Die Gesamtbevölkerung kann per definitionem nicht im exakten Sinne dumm sein, da sich der Durchschnitts-IQ aus ihr ergibt. Wie steht es aber mit den „Hundertfünfzigprozentigen“, die alle Maßnahmen ausdrücklich befürworten, willig mitmachen und noch überbieten? Sind es gutwillige Dummköpfe? Auch hier vermute ich stark, dass dieser Personenkreis insgesamt einen überdurchschnittlichen IQ hat.
Wenn meine Annahmen plausibel sind, gibt es nicht den geringsten Grund, die negativen Folgen der Coronamaßnahmen ausgerechnet mit der Dummheit aller Verantwortlichen und/oder der Bevölkerung zu erklären. Diese Erklärung kann daher nicht der These überlegen sein, dass die negativen Resultate entweder direkt angestrebt oder billigend in Kauf genommen werden. Ich selbst schimpfe zwar innerlich jedesmal über die Blödheit der Leute, die ich an der frischen Luft oder im Supermarkt Masken tragen sehe. Ich meine aber so etwas wie meschugge oder bekloppt.
Wie zu Beginn erwähnt, kann unter dem Begriff „Dummheit“ vieles verstanden werden. Man könnte statt der allgemeinen Intelligenz von Personen zum Beispiel „Dummheiten“ in den Blick nehmen. Auch intelligente Menschen reden bisweilen Unsinn und handeln bisweilen unangemessen, machen also Dummheiten. Man sagt hochintelligenten Menschen sogar nach, häufig unangemessen zu handeln und wenig alltagstauglich zu sein, wie das Beispiel Kuno Fischer zeigt. Gerade die übertriebene Angst vor Viren und Bakterien wird – medial vermittelt durch Kunstfiguren wie Adrian Monk oder Sheldon Cooper – gerne mit Hochintelligenz und Genialität assoziiert.
Wie integriert man diese Art von „Dummheit“ in Hanlons Rasiermesser? Man müsste es etwa so formulieren: „Erkläre negative Resultate nicht durch böse Absicht, sondern eher mit den Torheiten, die gutwillige Akteure trotz normalem oder hohem IQ im konkreten Zusammenhang x begehen.“
Doch auch hier bleibt die Frage offen, warum und wozu man diesem Gebot folgen sollte? Es rasiert schließlich nichts, sondern klebt etwas an. Negative Resultate mit der Torheit intelligenter und gutwilliger Verantwortlicher zu erklären, ist gewundener, als davon auszugehen, dass intelligente Akteure zweckrational handeln, um unlautere Ziele zu verwirklichen. Das Treiben von Drosten oder Lauterbach zum Beispiel wirkt sich nicht eindeutig positiv auf den deklarierten Zweck aus, die Gesundheit der Gesamtbevölkerung zu erhalten oder zu verbessern. Ein klar positiver Effekt ihres Handelns ergibt sich aber im Hinblick auf den Gewinn diverser Unternehmen – zum Beispiel TIB Molbiol/Rosche (Testkits) und Biontech/Pifzer (Impfungen).
Warum um alles in der Welt soll es plausibler sein anzunehmen, dass Drosten und Lauterbach guten Willens die allgemeine Gesundheit zum Ziel haben, dieses Ziel aber verfehlen, statt davon auszugehen, dass sie den angerichteten Schaden zumindest billigend in Kauf nehmen, um die Gewinne der genannten Firmen zu steigern, ihre eigene Bedeutung und Macht zu vergrößern oder sonstige fragwürdige Zwecke zu verfolgen? Warum sollten sie als intelligente Personen nicht andere Menschen über ihre wahren Ziele täuschen? Das dürfte ihnen leichter fallen, als es Personen mit deutlich verminderter Intelligenz fällt. Solche Menschen werden zum Beispiel in der russischen Literatur gerne als „Gottesnarren“ dargestellt, die immer die Wahrheit sagen und stets korrekte Prognosen abliefern.[2]
Des Pudels Kern
Welche Intentionen Personen wie Drosten oder Lauterbach wirklich haben, ist im Moment einerlei. Es geht hier nur um die Frage, warum Dummheit plus gutem Willen a priori eine bessere Erklärung sein soll. Man mag einwenden, dass es sich eben um eine Faustregel handele, die nicht bewiesen werden müsse, sondern nur der groben Orientierung diene. Was aber macht diese Richtschnur in welcher Hinsicht besser als eine andere?
Noch einmal: Es muss etwas geben, was empirisch für sie spricht. Zum Beispiel, dass man in irgendeiner Weise davon profitiert. Worin besteht der Vorteil, Ugur Sahin oder Bill Gates für gutmütige Simpel, statt für skrupellose Geschäftsmänner und/oder Größenwahnsinnige zu halten? Selbst wenn es einen handfesten lebenspraktischen Vorteil gäbe, änderte dies nichts an der Erkenntnis, dass Hanlons Rasiermesser „Hanlons Zirkel“ heißen müsste.
Ich kann jedenfalls keinen Grund erkennen, dieses „Messer“ anzusetzen, außer dem einen einzigen, böse Absicht als Erklärung negativer Folgen von vornherein zu delegitimieren. Es ist kein Zufall, dass in Hanlons Rasiermesser nur die Dummheit erwähnt wird, obwohl vor allem der gute Wille gemeint ist. Beim Wort „Dummheit“ soll der gute Wille mitgedacht werden. Dies wiederum hat narkotisierende Wirkung und mildert alle Kritik schon im Ansatz.
Damit sind wir bei des Pudels Kern angelangt. Wenn ich böse Absichten hätte, käme mir Hanlons Rasiermesser gerade recht: Sollen sie sich doch schlau vorkommen und in mir nur einen gutmütigen Tölpel sehen, während ich ihnen gehörig das Fell über die Ohren ziehe! Dann halten sie nämlich schön still.
Das Gebot, die Dummheit der Akteure als Erklärung zu bevorzugen, ist in Wirklichkeit ein Tabu. Es darf nicht ausgesprochen werden, dass böse Absichten und böse Menschen am Werk sind. Hanlons Rasiermesser scheint von Sokrates inspiriert zu sein, welcher lehrte, dass böse Handlungen nur aus Unkenntnis des Guten geschehen können, nicht aus böser Absicht. Was uns böse erscheine, sei bloß Unwissenheit.
Doch außerhalb des von Sokrates gespannten metaphysischen Rahmens und seiner Ontologie führt diese Auffassung grob in die Irre. Menschen wissen in der Regel jedenfalls genau, was in ihrer Lebenswelt als böse gilt. Wer zum Beispiel zum eigenen Vortreil absichtlich Schaden verursacht oder billigend in Kauf nimmt, wird gemeinhin moralisch verurteilt, wenn mit diesem Schaden nichts (hinreichend) Gutes kausal verbunden ist.
Personen, die gewohnheitsmäßig mit Absicht solchen Schaden anrichten, gelten als schlechte Menschen, also böse Individuen. Man fasst ihre Angewohnheit als Charaktereigenschaft, als Teil ihrer Persönlichkeit auf. Unklar ist der Status derjenigen, die einen Schaden bloß zulassen. Bösewichte machen es sich im Nebelfeld von direktem Vorsatz, Eventualvorsatz, bewusster und unbewusster Fahrlässigkeit gerne bequem. Wichtig ist, dass all dieses Handeln bzw. Zulassen als moralisch falsch und schuldhaft gilt.
Intentionen für und wider
Kommen wir auf das Beispiel Corona zurück. Wenn es zutrifft, dass die Maßnahmen insgesamt einen riesigen Schaden bei geringem Nutzen verursachen, stellt sich die Schuldfrage. Der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld legt meiner Ansicht nach überzeugend dar, dass die Coronamaßnahmen in keinem der beiden dominierenden ethischen Systeme moralisch zu rechtfertigen sind. Wenn Esfeld richtig liegt, haben die dafür Verantwortlichen gemäß der beiden ethischen Systeme moralisch falsch gehandelt. Moralisch falsches Handeln allein bedeutet jedoch nicht, dass es auch in böser Absicht stattfindet.
Für eines der von Esfeld genannten Systeme – den Utilitarismus – ist diese Frage ohnehin bedeutungslos, da nur Ergebnisse bewertet werden, nicht Intentionen. Der Impuls des Utilitarismus bzw. Konsequentialismus, Intentionen nicht zu beachten, ist durchaus nachvollziehbar, da niemand – außer Gott – wissen kann, welche Intentionen andere Personen wirklich haben. Es liegt also nahe, Spekulation darüber zu unterlassen und sich nur auf das zu konzentrieren, was „hinten rauskommt“, wie der ehemalige Bundeskanzler Kohl gesagt hätte. Damit ergeben sich aber gravierende Probleme an anderer Stelle. Der utilitaristische „Nettonutzen“ beispielsweise ist meines Erachtens auch nicht einfacher zu ermitteln als der gute oder böse Wille der Akteure.
Prinzip der Doppelwirkung
In allen nicht-konsequentialistischen Ethiken sowie für die meisten Menschen spielen Intentionen eine bedeutende oder entscheidende Rolle bei der moralischen Bewertung. Das aus der katholischen Theologie stammende ethische Prinzip der Doppelwirkung (PDW) ist zur Verdeutlichung gut geeignet.[3] Im PDW wird die Erfahrung reflektiert, dass eine Handlung oft gute und schlechte Folgen zugleich hat. Wir wollen uns zunächst nur auf den einen Aspekt des PDW konzentrieren, dass moralisch indifferente oder gute Handlungen auch dann legitim sind, wenn sie schlechte Nebenfolgen haben.
Eine von vier Bedingungen dieser Legitimität ist laut PDW, dass die schlechten Folgen unbeabsichtigt sind, also nicht direkt angestrebt werden. Das gilt auch dann, wenn die Akteure schlechte Folgen klar voraussehen und sogar mit Sicherheit wissen, dass sie eintreten werden. Das PDW ist in gewisser Weise „gnädiger“ als unser Rechtssystem, da es bewusste und unbewusste Fahrlässigkeit sowie Eventualvorsatz nicht als moralisch falsch betrachtet, sobald seine vier Bedingungen erfüllt sind.
Dieser Aspekt des PDW scheint allen Verantwortlichen und Befürwortern der Coronamaßnahmen gelegen zu kommen. Wenn sich der Wind wider Erwarten drehen sollte, brauchen sie nur zu beteuern, dass sie die negativen Folgen entweder gar nicht gesehen oder nicht angestrebt haben – schon bekommen sie mildernde Umstände.
Doch damit hätten sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Das PDW hat vier Bedingungen, die alle erfüllt sein müssen, damit eine Handlung, die Schaden verursacht, moralisch legitim ist. Bedingung vier lautet: „Die gute Wirkung muss hinreichend wünschenswert sein, sodass sie das Zulassen der schlechten Wirkung aufwiegt. Bei dieser Entscheidung müssen viele Faktoren abgewogen und verglichen werden, und zwar mit einer Sorgfalt und Umsicht, die der Wichtigkeit des Falls angemessen ist.“
Die gute Wirkung der Coronamaßnahmen mag wünschenswert sein; sie wurden allerdings nicht einmal im Ansatz gegen irgendetwas abgewogen. Zudem haben die Maßnahmen im Hinblick auf den deklarierten Zweck keinerlei oder nur marginal positive Wirkung. Letztere stünde, sofern vorhanden, in krassem Missverhältnis zu den negativen Konsequenzen. Lockdowns, Isolation, Maskenpflicht, Massenimpfungen richten insgesamt verheerenden Schaden an.
Dass dem so sein würde, war leicht vorauszusehen. Es gab noch im Oktober 2019 eine große Analyse der WHO, in welcher die meisten der später ergriffenen Maßnahmen als wirkungslos gekennzeichnet worden waren. Ferner hatten Hochqualitätsstudien bereits lange vorher ermittelt, dass Masken nichts gegen die Ausbreitung respiratorischer Viren ausrichten. Es gab keinerlei Grund zur Annahme, ausgerechnet bei SARS-CoV-2 würde es anders sein.
Selbst die fragwürdige Studie aus Bangladesch, die formal hohen Qualitätsstandards genügt, zeigt nur eine geringe Wirkung. Diese hätte aber gegen den möglichen Schaden abgewogen werden müssen. Von den sozialen und ökonomischen Folgen, die wiederum auf die Gesundheit zurückwirken, ganz zu schweigen. Jedem, der überhaupt zur Abwägung bereit war, musste dies klar vor Augen stehen.
Wer’s glaubt, wird selig
Kann man angesichts dessen ernsthaft annehmen, wer solche gigantischen Verwerfungen verursacht und aggressiv befürwortet; wer noch immer Menschen isoliert, schikaniert, quält, ihrer Existenz beraubt, ihnen die Grundrechte nimmt, habe gute Absichten und sei lediglich zu dumm, den Schaden zu ermessen? Das ist geradezu absurd.
Viel naheliegender erscheint die Annahme, dass der Schaden direkt angestrebt oder billigend in Kauf genommen wird – in beiderlei Fällen wäre Vorsatz am Werk. Da es Personengruppen gibt, die von solchem Schaden und dem deklarierten Notstand in Bezug auf Geld, Macht, Bedeutung profitieren, stellt sich die Frage, warum Personen diesen Schaden und Notstand nicht bewusst anstreben oder ausnutzen sollten?
Wie erwähnt, weiß niemand mit Gewissheit, welche Intentionen andere Personen wirklich haben. Ich höre immer wieder, dass Leute wie Wieler oder Lauterbach tatsächlich an das glauben, was sie sagen, und daher Überzeugungstäter seien. Doch womöglich vermitteln sie nur erfolgreich diesen Eindruck.
Eine auf Intentionen konzentrierte Moral steigert den „evolutionären Druck“ in Richtung Heuchelei und Selbstbetrug. Das PDW zum Beispiel unterschätzt diesen Faktor ganz beträchtlich.[4] Subjekt desselben ist ein allwissender Gott, den man nicht täuschen kann. Aber dieser gibt leider keine Auskünfte.
Der Selbstbetrug hat sich evolutionär durchgesetzt, weil er viele Vorteile bietet – vor allem den, nicht der schlechten Absicht überführt werden zu können, weil man schließlich selbst geglaubt hat, nur die besten Absichten zu haben. Bewusstes Lügen und Betrügen kostet mehr Energie und wird härter sanktioniert.
Selbstbetrug
Ich habe an anderer Stelle schon öfter den Selbstbetrug als moralisches Übel sui generis bezeichnet und mich dabei auf Immanuel Kant berufen. Für Kant ist entscheidend, wie sich der Mensch zu seiner triebhaften Natur – zu seinen niederen Instinkten – verhält. Ist er in diesem Belang nicht schonungslos ehrlich, wird diese „Unredlichkeit, sich blauen Dunst vorzumachen“, immer weiter fortschreiten und schließlich zu manifesten Untaten mit gutem Gewissen führen.
Den Hang zum Selbstbetrug bezeichnet Kant als „radikale Verkehrtheit des Herzens“, mithin als „radikal böse“. Dahinter steht seine Überzeugung, dass der Mensch „aus krummem Holze geschnitzt“ sei und deshalb „nie ganz gerade werden“ könne. Menschen sind nicht „von Natur aus gut“; moralische Schwächen wird man nie ganz beseitigen können. Mit bösen Absichten muss im Falle negativer Resultate immer gerechnet werden.
Subsumiert man nun den Selbstbetrug unter die bösen Absichten, ergibt sich folgende Faustregel: „Je schlimmer die Resultate, desto wahrscheinlicher sind böse Absichten.“ Ob jemand sich selbst betrügt, kann zwar nie mit Sicherheit festgestellt werden. Allerdings ist diese Gewissheit nicht geringer als diejenige, mit welcher man gute oder indifferente Absichten feststellen kann. Wenn also Intentionen eine Rolle spielen, steht der Selbstbetrug mindestens gleichrangig neben den guten und neutralen Absichten.
Ich empfehle, immer von den Mitteln auf die Zwecke und von dort auf die Intentionen zu schließen. Zu welchem Zweck passen die angewandten Mittel am Besten? Stimmt der passendste Zweck mit dem offiziell angegebenen überein? Wenn nicht, ist Vorsicht geboten. Denn bereits die Tatsache, dass Mittel verwendet werden, die nicht optimal zum offiziellen Zweck, aber zu einem anderen passen, lässt auf Täuschung schließen.
Ist der passendste Zweck dann auch noch moralisch zweifelhaft oder verwerflich, steckt mit ziemlicher Sicherheit böse Absicht dahinter. Man wende dies auf obige Bemerkung an, dass die Coronamaßnahmen nicht zum Gesundheitsschutz, wohl aber optimal zur Profitsteigerung bestimmer Unternehmen passen. Ich würde sagen, das ist nahezu selbsterklärend.
It’s the evil, stupid!
Die Frage, ob Personen wie Lauterbach oder Drosten aus Dummheit plus guter Absicht handeln, muss also verneint werden. Sie sind intelligent und handeln in böser Absicht, und zwar nur in böser Absicht. Da sie dies gewohnheitsmäßig und ausdauernd tun, sind sie böse Menschen. Das umso mehr, je mehr sie sich selbst betrügen und zu Wohltätern der Menschheit erklären mögen. Niemand zwingt sie zu ihren Taten, ihren Manipulationen, ihren haltlosen Behauptungen, ihren Verleumdungen.
Es ist kein Zufall, dass viele fanatische Befürworter rigoroser Coronamaßnahmen sogenannte Gutmenschen sind, deren hohe Moral bereits vor Corona ausschließlich darin bestand, voller Inbrunst andere an den Pranger zu stellen. Man braucht nicht viel Menschenkenntnis, um zu sehen, dass hier Leute „Haltet den Übeltäter“ schreien, die davon ablenken wollen, dass sie selbst von bösen Absichten durchdrungen sind. Im Coronaregime leben sie sichtlich auf – als Beispiel sei hier nur Jan Böhmermann genannt.
Es handelt sich hierbei in der Regel um Menschen, die vehement bestreiten, dass der Mensch besagtes „krummes Holz“ ist. Vielmehr vertreten sie meist aggressiv die vulgärrousseauistische Auffassung, ohne äußere Einschränkungen sei der Mensch edel und rein. Deshalb solle man sie schalten und walten lassen, wie sie wollen. Schuld an ihren zahlreichen Fehltritten sind denn auch immer andere. Die Pointe am Gutmenschentum ist, dass Gutmenschen in Wirklichkeit böse Menschen sind.
Und so haben sie keine Probleme, sogar ihre eigenen Angehörigen bis zum Exzess für eine vermeintlich gute Sache zu quälen. Dass Menschen in großer Anzahl und auf breiter Front mit bösen Absichten unterwegs sind; dass sie anderen bewusst schaden, sich auf deren Kosten erheben wollen, ist für viele aus irgendeinem Grund schwer zu akzeptieren. Man lässt sich zu sehr einlullen von den Eigenbekundungen dieser Leute, fällt gerne auf den Wolf im Schafspelz herein.
Fazit
Gerade angesichts der monströsen Verwerfungen durch das Coronaregime[5] halte ich es für verfehlt, sich von der falschen Alternative „Dummheit oder böse Absicht“ blenden zu lassen. Die Hauptakteure, willigen Vollstrecker und begeisterten Mitläufer sind weder besonders dumm noch guten Willens. Sie sind böse im wahrsten Sinne des Wortes.
Indem ich dies schreibe, vertrete ich kein „manichäisches Weltbild“ mit starrem Gut-Böse-Schema. Ich mache bloß darauf aufmerksam, dass der Ausdruck „böse“ eine Bedeutung hat und daher auch angewendet werden darf, wenn sich etwas Adäquates findet. Schließlich wird sein Pendant „gut“ (im moralischen Sinn) sehr freigiebig verwendet. Jeder noch so prätentiöse Humbug wird sogleich als moralisch vorzüglich beklatscht. Da schaden ein paar Dissonanzen im permanenten Jubelakkord überhaupt nicht.
Das Kind muss beim Namen genannt werden! Denn die Unredlichkeit, sich blauen Dunst über Intentionen und Motive vorzumachen, schwächt mit dem inneren auch den äußeren Widerstand gegen totalitäre Übergriffe. Gewiss können Menschen sich ändern und zum Guten wandeln. Dies wird aber kaum geschehen, wenn sie ohnehin schon allerorten für gut gehalten und de facto heiliggesprochen werden. Verzeihen sollte man den Corona-Übeltätern, wenn überhaupt, erst nachdem sie tätige, glaubhafte Reue gezeigt haben. Das sollten sie aber tun, bevor sie niedergerungen werden. Danach hätte ihre „Reue“ einen starken Hautgout.
Dummheit als Ursache gravierenden Übels ist eine Ad-Hoc-Hypothese, die nur dazu dient, böse Menschen wider alle Evidenz für gut halten zu können. Ich finde, man sollte das Böse schon zur Kenntnis nehmen, wenn es sich so breitbeinig vor der eigenen Nase aufpflanzt und einem permanent ins Gesicht schlägt. Mit stumpfen Rasiermessern wird man es jedenfalls nicht besiegen.
Hier geht es weiter zu Teil zwei.
[1] Bei Kästner ist das Ganze eine Metapher dafür, dass Menschen wie Fabian in totalitären Gesellschaften untergehen. Ich selbst bin der Ansicht, dass Moralisten den Totalitarismus hervorbringen – allerdings nicht Moralisten wie Fabian.
[2] Am prominentesten wohl in der Oper „Boris Godunow“ von Modest Mussorgski.
[3] Die beste Darstellung und Verteidigung des PDW, die mir bekannt ist, findet sich in: David S. Oderberg, Moral Theory, Oxford 2000, S. 88–126. Die beste mir bekannte Zurückweisung des PDW steht in: Raymond G. Frey, Rights, Killing & Suffering, Oxford 1983, S. 118–138.
[4] Vgl. dazu Klaus Alfs, Kritik der vegetarischen Ethik, Hofstetten/SO 2019, S.72ff.
[5] Mindestens genauso deutlich wird die böse Absicht im Ökologismus, der Klimahysterie, dem Wokismus und den daraus resultierenden Handlungen. Wenn etwas abgrundtief böse ist, dann diese mit der „Planetenrettung“ oder „diskriminierten Minderheiten“ nur oberflächlich kaschierte Absicht, Menschen zu drangsalieren und zu eliminieren. Man erzähle mir nichts von den „guten Absichten“ der Letzten Generation, von Extinction Rebellion, Fridays for Future, Black Lives Matter!