Nicht gewusst, wie
In der öffentlichen Diskussion um Corona fällt besonders auf, dass sich nicht nur ständig auf Wissenschaft berufen wird, sondern auf eine Wissenschaftstheorie bestimmten Typs, deren Schöpfer Karl Raimund Popper war. Es wäre kein Problem, wenn Popper als Person weiter verehrt würde. Ein Problem ist jedoch, dass seine Theorie in Gestalt einiger Versatzstücke noch immer als non plus ultra präsentiert wird – meist mit dem triumphierenden Gestus desjenigen, der anderen erklärt, „wie Wissenschaft funktioniert“. Das lässt auf ein bedenkliches Maß an Selbsttäuschung schließen.
Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass auch viele sachkundige Kritiker der strengen Coronamaßnahmen ihr erliegen. Als typisches Beispiel soll hier ein Artikel des praktizierenden Naturwissenschaftlers Andreas Zimmermann (Pseudonym) dienen. Während etwa Natalie Grams und Eckart von Hirschhausen mit dem Impfomat geistig auf dem absoluten Nullpunkt agieren, legt Zimmermann mit methodischer Strenge dar, dass die Covid-Impfungen alles andere als harmlos sind.[1] Leider belässt er es nicht dabei und verkündet unter der Überschrift „Wissenschaft lebt vom Zweifel – im Gegensatz zur Ideologie“ Folgendes:
„Die wissenschaftliche Vorgehensweise funktioniert nämlich so, dass man zunächst eine Hypothese aufstellt und dann versucht, diese zu widerlegen. Wissenschaft lebt also aus Prinzip vom Zweifel – im Gegensatz zur Ideologie, bei der die ,Wahrheit‘ von vornherein feststeht und Zweifel an ihrer Richtigkeit deshalb nicht erlaubt sind.“[2]
Keineswegs funktioniert aber „die wissenschaftliche Vorgehensweise“ so wie beschrieben, und das nicht nur, weil es die wissenschaftliche Vorgehensweise überhaupt nicht gibt. Was der Autor andeutet, ist lediglich eine Vorgehensweise, die Popper sich in den 1930er Jahren ausgedacht hat,[3] und zwar als Norm, nicht als faktische Beschreibung dessen, was tatsächlich geschieht. Das Problem daran ist, dass Wissenschaft erstens noch nie so vorgegangen ist und es zweitens auch vollkommen unsinnig wäre, so vorzugehen. Der Unsinn hat jedoch einen berühmten Namen und heißt „Falsifikationismus“, welcher wiederum das Kernstück des Kritischen Rationalismus bildet.
Falsifikation als Lösung
Wissenschaftler erscheinen im Kritischen Rationalismus als mutig, originell und selbstlos. Sie formulieren Hypothesen nicht einfach deshalb, weil sie etwas prima facie für zutreffend halten und durch gewisse Prozeduren bestätigen wollen. Nein. Sie stellen ihre Hypothesen auf wie Delinquenten, um sie so lange zu beschießen, bis sie tot umfallen. Danach wird sogleich die nächste Hypothese aufgestellt und ebenfalls standrechtlich erschossen. So geht es im Akkord weiter, denn genau darin besteht laut dem Kritischen Rationalismus die wissenschaftliche Vorgehensweise. Ein paar robuste Opfer überleben den Beschuss, werden als „vorerst nicht falsifiziert“ auf Bewährung entlassen, bis sie irgendwann erneut in die Fänge eines professionellen Hypothesenkillers geraten. So schreitet die Wissenschaft im Rückwärtsgang fort – einer Wahrheit entgegen, die zwar unerreicht und unerkennbar sei, der man aber näherkomme, indem man möglichst viele Hypothesen in beschriebener Weise traktiert und füsiliert.[4]
Popper war stolz darauf, eine ärgerliche Rationalitätslücke der Wissenschaft geschlossen zu haben. Die Naturwissenschaft war lange Zeit damit beschäftigt, Naturgesetze zu „entdecken“, die sich dadurch auszeichnen, dass sie uneingeschränkt gelten. Wissenschaftler „entdeckten“ diese Gesetze, indem sie systematisch von der Vergangenheit auf die Zukunft schlossen (Induktion). In der neuzeitlichen Wissenschaft wurde dieses Prinzip zur wissenschaftlichen Methode schlechthin – vor allem in Gestalt von Experimenten, die bei beliebiger Wiederholung immer zum gleichen Ergebnis führten. Das logische Problem bestand darin, dass Naturgesetze im strengen Verständnis als Allsätze formuliert werden müssen, zum Beispiel „Für alle x gilt …“ oder „Immer wenn …“. Allsätze können aber niemals durch Induktion bestätigt (verifiziert) werden. Trotz der Tatsache, dass die Sonne bisher so oft und regelmäßig am Morgen aufgegangen ist, kann niemals ausgeschlossen werden, dass sie es morgen nicht mehr tun wird.
David Hume hatte bereits Mitte des 18. Jahrhunderts überzeugend dargelegt, dass die Induktion als Verfahren nicht rational begründbar ist.[5] Denn alle denkbaren Versuche einer solchen Begründung beruhen notwendig ihrerseits auf Induktionsschlüssen, sind also immer zirkulär. Humes Befund ist bis heute gültig. Will die Wissenschaft sich anderen Verfahren gegenüber als besonders rational ausweisen und besteht diese Rationalität in der induktiven Methode, muss sie scheitern. Popper meinte jedoch, den Stein der Weisen gefunden zu haben: Zwar können Allsätze nicht durch Induktion bestätigt, aber durch ein einziges Gegenbeispiel widerlegt (falsifiziert) werden.
Macht man also die Falsifikation zum Prinzip der Wissenschaft, ist die Lücke geschlossen. Humes Kritik an der Induktion wird von Popper voll anerkannt. Der Kritische Rationalismus zerschlägt den Gordischen Knoten, indem er behauptet, auf Induktion nicht angewiesen zu sein. Sie wird als illegitimes, weil irrationales und überflüssiges Verfahren des wissenschaftlichen Feldes verwiesen. Der Kerngedanke lautet: Wir können zwar nicht sagen, was richtig ist, aber wir wissen per Falsifikation, was falsch ist, und können es aus dem Korpus der Wissenschaft entfernen.
Popper erklärt die Falsifikation zum alleinigen Abgrenzungskriterium von Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Letztere liege immer dann vor, wenn sie als Wissenschaft auftritt, deren Thesen aber nicht widerlegbar seien. Theorien und Hypothesen müssen „an der Wirklichkeit scheitern“ können. Die Skepsis soll in diesem System eine besonders prominente Stellung haben und zugleich daran gehindert werden, es vollends zu sprengen.
Der Kritische Rationalismus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg begeistert aufgenommen. Popper war weit und breit der einzige Philosoph, den Naturwissenschaftler ernst nahmen – dies jedoch wohl nicht nur wegen seiner Beweisführung, sondern unter anderem aufgrund der schmeichelhaften Rolle, die er den Wissenschaftlern in seinem System zugedacht hatte. In der Wissenschaftstheorie sind alle Varianten des Falsifikationismus inzwischen nicht einmal mehr Gleiche unter Gleichen, während praktizierende Wissenschaftler und gebildete Laien von ihnen als vermeintlichem Königsweg partout nicht lassen mögen.
Falsifikation als Problem
Von den zahlreichen möglichen Kritikpunkten[6] sei die Selbsttäuschung herausgegriffen, ohne Induktionsschluss auch nur einen einzigen Schritt tun zu können. Zwar hat Popper die Rationalitätslücke der empirischen Wissenschaft an einer Stelle geschlossen, dabei aber an anderer Stelle einen Graben aufgerissen. Norbert Hoerster schreibt dazu: „Die ‚kritischen Rationalisten‘ gehen in ihrer Theorie […] immer wieder stillschweigend von Voraussetzungen aus, die sie zuvor ausdrücklich als unbegründet, irrational und überflüssig verworfen haben.“[7] Wenn der Schluss von der Vergangenheit auf die Zukunft unzulässig ist, wie Popper meint, wie kann er dann überhaupt irgendeine Hypothese oder Theorie als „vorläufig nicht falsifiziert“ und damit als „bewährt“ bezeichnen? In dem Moment, in dem er dies tut, schließt er bereits von der Vergangenheit auf die Zukunft.
Er kann auch niemals Beobachtungsdaten heranziehen, weil Daten, sobald sie vorliegen, Resultat vergangener Untersuchungen, Experimente und dergleichen sind. In dem Moment, in welchem man ein Paper liest, könnten dessen Resultate schon nicht mehr stimmen. Unmittelbar nachdem eine Theorie oder Hypothese für falsifiziert erklärt wurde, müsste sie sogleich wieder auf den Prüfstand. Der Ausgang hätte auch nach einer Milliarde Versuchen mit identischem Ergebnis als ungewiss zu gelten. Die Tatsache, dass eine Milliarde Versuche das gleiche Ergebnis hatten, könnte sogar zur Annahme verleiten, gerade deshalb sei ein anderes Resultat umso wahrscheinlicher.
Beobachtungsdaten sind ohnehin eine unzureichende Grundlage. Mit dem Verweis auf sie allein kann nichts wirklich falsifiziert oder verifiziert werden.[8] Es müsste schon vorab ein Konsens erzielt werden, wann eine bestimmte These als falsifiziert zu gelten habe. Dann aber wäre nicht Falsifikation, sondern der Konsens das bestimmende Metaprinzip. Unabhängig vom Induktionstabu gilt, dass sich niemals mit Sicherheit sagen lässt, ob eine Aussage falsifizierbar ist. Denn dies ist abhängig vom jeweiligen Stand des Wissens und den jeweilig zur Verfügung stehenden Testverfahren.
Da man nicht von der Vergangenheit auf die Zukunft schließen darf, steht zudem jedes Ideensystem, das aus Erfahrung als offenkundig absurd und krank angesehen wird, bis zu seiner Falsifizierung gleichberechtigt neben ernstzunehmenden Kandidaten. Das allein mag noch zu verschmerzen sein. „Kein Gedanke ist so alt und absurd, dass er nicht unser Wissen verbessern könnte“[9], meint Paul Feyerabend. Doch David Hume hat mit der Induktion auch gleich die Kausalität zum nicht weiter begründbaren Erfahrungswert degradiert[10] und als bloße Regularität aufgefasst.[11] Der Satz „Kein Säugetier legt Eier“ wird durch die Existenz des Schnabeltiers falsifiziert, der Satz „In der Regel legen Säugetiere keine Eier“ hingegen nicht.
Von statischen Naturgesetzen mit uneingeschränkter Geltung ist in vielen Wissenschaftsdisziplinen nicht mehr die Rede, zum Beispiel in der Evolutionsbiologie oder der modernen Physik. Wissenschaftliche Aussagen werden heute oft als Wahrscheinlichkeiten formuliert. Wahrscheinlichkeitssätze sind jedoch nicht falsifizierbar. Daraus folgt zwingend, dass zum Beispiel alle probabilistischen Theorien der modernen Physik im Kritischen Rationalismus als Pseudowissenschaft zu gelten haben. Das gefeierte Prinzip der Falsifikation düpiert ausgerechnet diejenigen, die damit besonders ausgezeichnet werden wollen. Wenn es die Besten erschlägt und die Schlimmsten leben lässt – wozu taugt es dann überhaupt?
Mit leeren Händen
Popper wusste selbstverständlich um die Probleme seines Ansatzes, konnte sie aber insgesamt nicht befriedigend lösen.[12] Einwände gegen den Falsifikationismus werden noch heute gerne damit pariert, dass die Kritik lediglich einen „naiven Falsifikationismus“ treffe, wie ich ihn oben dargestellt habe. Der wirkliche Falsifikationismus sei viel differenzierter. Auch ein differenzierter Falsifikationismus müsste aber den erklärten Hauptzweck erfüllen, auf nicht allzu komplexe Weise zwischen wissenschaftlichen und metaphysischen Theorien unterscheiden zu können. Letzteres wiederum würde nur funktionieren, wenn der naive Falsifikationismus widerspruchsfrei begründbar wäre. Er ist aber offenkundig absurd.
Mit höherem Differenzierungsgrad mag er weniger widersprüchlich werden, wird aber im selben Maß weniger fasslich. Auch ein „raffinierter“ Falsifikationismus leidet unter gravierenden Konstruktionsfehlern, selbst wenn nicht Theorien oder Hypothesen, sondern ganze Forschungsprogramme sein Gegenstand sind. Feyerabend riet unumwunden dazu, den Kritischen Rationalismus möglichst schnell zu vergessen und am besten gleich die gesamte Wissenschaftstheorie als „Kinderei“ zu verwerfen.[13]
In den 1960er Jahren stand man also wieder mit der ebenso unbegründbaren wie unverzichtbaren Induktion da, welche zwar hervorragend funktioniert, aber rätselhaft bleibt. Sie zu verwenden ist zwar in praktischer Hinsicht äußerst rational. Doch mit dieser Rationalität hat die Wissenschaft nun einmal der Alltagspraxis oder „Pseudowissenschaft“ nichts Prinzipielles voraus. Schon der antike Skeptizismus wusste, dass Letztbegründungen auf deduktivem Wege in die Ausweglosigkeit führen. Schließlich muss man irgend etwas unhinterfragt lassen, um von dort aus weiterzukommen. Doch das hilft der Wissenschaft nicht aus der Misere, weil es nun einmal auf alle zutrifft. Wissenschaft will aber etwas Besonderes sein.
Da die Falsifikation aus genannten und weiteren Gründen nicht zum alleinigen Abgrenzungskriterium taugte, stand plötzlich die Wissenschaft selbst unter Pseudowissenschaftsverdacht. Thomas S. Kuhn[14]und Paul Feyerabend pulverisierten den Kritischen Rationalismus mitsamt Falsifikationismus, Imre Lakatos [15] konnte letzteren wohl auch nicht retten.[16] Von diesem Schock scheinen sich viele Wissenschaftler und gebildete Laien bis heute nicht erholt zu haben.
Laborgesetze der Straße
Anfang der 1980er Jahre zeigte Karin Knorr-Cetina aus der Innenperspektive eines biochemischen Labors, wie praktische Wissenschaft wirklich zu „funktionieren“ scheint. Ihre Studie mit dem Titel „Die Fabrikation von Erkenntnis“[17] legte offen, dass in der experimentellen Praxis alles andere gemacht wird, als mit strengen Methoden Hypothesen zu falsifizieren. Vielmehr wird unter äußerem Druck improvisiert. Es geht um Geld, Erwartungen, Macht, Hierarchie, Anerkennung, Status, Karriere – wie bei anderen Menschen auch (nur schlimmer, möchte man ergänzen). Die veröffentlichten „Paper“ sind Artefakte besonderer Art, die weniger mit „objektiver Realität“ oder „Annäherung an die Wahrheit“ als mit der internen Realität einer gänzlich opportunistischen experimentellen Praxis zu tun hat, die Methoden so zu wählen, dass sie ein bestimmtes Ergebnis erzeugen. In den Veröffentlichungen ist davon allerdings nichts zu sehen. Die Autoren solcher Paper stellen die Sache lediglich ex post so dar, als seien sie einer strengen Methode gefolgt und hätten unbarmherzig die eigenen Hypothesen getestet. Genau wie die Rationalität des wissenschaftlichen Fortschritts laut Kuhn erst ex post durch voreingenommene Geschichtsschreibung hergestellt wird.
Man mag dies als unzulässige Verallgemeinerung ansehen. Doch Knorr-Cetina hat ihre Theorie inzwischen auf breiterer Grundlage ausgearbeitet (siehe Fußnote 17). Ihre Resultate werden zudem durch umfassendere Untersuchungen und bekannt gewordene Betrugsfälle gestützt.[18] Manifester Betrug in signifikantem Ausmaß ist nur das auffälligste Indiz, dass etwas grundsätzlich schief läuft. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine wissenschafliche Studie falsche Resultate liefert, ist laut John A. Ioannidis größer als die Wahrscheinlichkeit des Gegenteils. In seinem Buch „Science Fictions“ zeigt Stuart Richie[19], dass die Replikation von Experimenten in der wissenschaftlichen Praxis so gut wie keine Rolle spielt. Das liegt unter anderem daran, dass man als Forscher für Wiederholungen von Experimenten kaum Gelder bekommt und zudem keinen Ruhm ernten kann. Wenn aber Experimente wiederholt werden, können die Resultate sehr oft nicht bestätigt werden.[20]
Die Wiederholung von Experimenten ist zusammen mit dem Peer-Rewiev als Mechanismus der Selbstkorrektur das offizielle Herzstück der empirischen Wissenschaft. Darauf sind Wissenschaftler stolz; damit begründen sie den einzigartigen, überlegenen Charakter der Wissenschaft. Genau diese Mechanismen greifen jedoch laut Richie nicht, haben sogar einen negativen Effekt. Das ganze System sei „badly broken“.[21] Dies gilt – wie auch Richie betont[22] – besonders für Medizin und Pharmakologie. Beim Thema Covid spielen diese eine herausragende Rolle.[23] Die Laborpandemie Corona wirkt im Ganzen wie eine hypertrophe Bestätigung von Knorr-Cetinas Thesen. Nachgezeichnet wird dies unter anderem hier und hier.
Poppers Hauptwerk heißt „Logik der Forschung“. Dem Anspruch nach befasst es sich nicht mit den Aspekten der Entstehung und Verwertung von Theorien. Man darf es also nicht als Beschreibung der Forschungspraxis missverstehen. Wie aber seit Kuhn klar ist, können die Bereiche Entstehung, Begründung, Verwertung nicht sauber voneinander getrennt werden. Die Begründung von Theorien wird durch Forschungspraxis ermöglicht. Diese aber folgt, wie gezeigt, im Inneren und strukturell bedingt ganz anderen Gesetzen, als denjenigen, die von Popper postuliert werden. Dies affiziert auch den Begründungszusammenhang. Denn Hypothesen wie Theorien werden laut Kritischem Rationalismus durch Beobachtungsdaten falsifiziert. Wenn diese aber aus strukturellen Gründen ganz anders zustande kommen, als Popper meint, erfüllen sie nicht die ihnen zugedachte Funktion, und der Falsifikationismus hängt in der Luft. Dort erfüllt er als luftiges Ideal eher den Zweck, das gänzlich unfalsifikatorische Treiben der Wissenschaftler mit einem Heiligenschein zu versehen.
Feyerabend für Popper
Der Kritische Rationalismus war der letzte über die Wissenschaftstheorie hinaus wirksame Versuch, den rationalen Sonderstatus der Wissenschaft mithilfe eines einzigen, prima facie leicht verständlichen Prinzips zu begründen. Aus meiner Sicht hat er die Selbsttäuschung der Wissenschaft auf ein Höchstniveau getrieben, indem er vorgab, dass Wissenschaft als einzige Erkenntnisweise vom Kohlendioxid des Zweifels statt vom Sauerstoff der Überzeugung lebt. Das ergab immerhin ein klares Freund-Feind-Schema. Der Distinktionsvorteil war immens, der Fall entsprechend tief. Kein Wunder, dass viele praktizierende Wissenschaftler und gebildete Laien die einschlägigen Begründungsprobleme nicht kennen oder nicht wahrhaben wollen. Man schimpft lieber über den Konstruktivismus oder den Relativismus.
Poppers gesellschaftspolitische Vorstellungen sind womöglich aktueller als seine Wissenschaftstheorie, wenngleich sie unter letzterer stark leiden. Er betrachtet alles als Feind, was sich seinem theoretischen Schema nicht fügt. Ich würde also eher zur Lektüre von John Stuart Mills „Über die Freiheit“[24] und Jacob L. Talmons dreibändiger „Geschichte der totalitären Demokratie“[25] raten. Der aktuellste Klassiker unter den Wissenschaftsphilosophen ist für mich Paul Feyerabend.[26] Wissenschaft lebt für ihn nicht vom Zweifel, sondern von ihrer eigenen Propaganda. Sie ist „laut, frech, teuer und fällt auf“.[27] Knorr-Cetinas Studien sowie die zahlreichen Analysen zur Manipulation in der Wissenschaftspraxis bestätigen Feyerabends Befund, dass Wissenschaftler Methoden opportunistisch als Daumenregeln benutzen, solange sie ihre vorgefertigte Meinung bestätigen.
Geht man von diesen Gedanken aus, fällt man nicht immer wieder aus allen Wolken, wenn man feststellt, dass die wissenschaftliche Praxis mit dem Ideal nichts zu tun hat. Da die Forderungen des Kritischen Rationalismus ohnehin unerfüllbar und widersprüchlich sind, ähneln sie in gewisser Weise unerfüllbaren religiösen Geboten. Solche Gebote führen dazu, dass in ihrem Namen alle Gebote missachtet werden, auch die erfüllbaren. Widersprüchliche Imperative sind Machtinstrumente, die zu Heuchelei, Selbstbetrug und Betrug führen – exakt zu dem, was in der Wissenschaft insgesamt wohl genauso häufig anzutreffen ist wie zum Beispiel im Christentum.
Ändert man einmal die Perspektive, versteht man vielleicht besser, was gerade an globaler Verheerung im Namen des Seuchenschutzes geschieht. Wer sich immer nur über den vermeintlichen Missbrauch der reinen Wissenschaft beklagt, verfehlt die Pointe, dass diese Reinheit bloß ein säkulares Pendant zum christlichen Virginitätsdogma sein und Wissenschaft ihrerseits Missbrauch an der Gesellschaft verüben könnte.
[1] Zimmermanns Artikel sind allesamt sehr empfehlenswert. Hier und hier und hier können seine aktuellen Beiträge gelesen werden.
[2] Leider belässt es Zimmermann nicht dabei: „Wir können also Karl Lauterbachs Aussage, dass die vierte ‚Impfung‘ Leben rettet, als Hypothese annehmen und versuchen, diese Hypothese zu überprüfen. Dabei ist zu beachten, dass eine Hypothese bereits durch ein Gegenbeispiel als widerlegt gilt – ein einziger ehrlicher Kreter widerlegt die Hypothese, dass alle Kreter lügen.“ Durch ein einziges Gegenbeispiel können nur Allaussagen widerlegt werden, nicht Hypothesen generell. Lauterbachs Aussage ist keine Allaussage, kann also auf die beschriebene Weise nicht widerlegt werden. Aus Sicht des Kritischen Rationalismus wäre an der Aussage zu kritisieren, dass sie nicht falsifizierbar ist. Zimmermann falsifiziert sie dann logischerweise auch gar nicht, glaubt aber, es getan zu haben. Einfaches Nachdenken hätte indes genügt, den Fauxpas zu vermeiden. Selbstverständlich kann jedem einmal ein Fehler, eine nachlässige Formulierung unterlaufen. Aber diese lässt meiner Ansicht nach auf grundlegenden Irrtum schließen.
[3] Vgl. Karl Popper, Logik der Forschung, Tübingen 2001.
[4] Diese überzeichnete Darstellung habe ich deshalb gewählt, weil offenbar vielen, die sich noch immer auf Popper berufen, nicht recht klar zu sein scheint, wie wenig plausibel dessen Vorstellung von der Logik der Forschung ist.
[5] Vgl. David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Stuttgart 1982, S. 41–58.
[6] Eine Vorstellung davon, was dort grundsätzlich „schief läuft“, vermittelt der Aufsatz The Demise of the Demarcation Problem von Larry Laudan, besonders S. 121 f.
[7] Norbert Hoerster, Was können wir wissen?, München 2010, S. 69.
[8] Vgl. meinen Blogeintrag Wahre Wissenschaft?, Kap. „Unterbestimmtheit“. Die Triftigkeit der Unterbestimmtheitsthese erweist sich derzeit täglich während der „Corona-Krise“: Mit dem Verweis auf Beobachtungsdaten wird hier buchstäblich alles und nichts bewiesen bzw. abgewiesen, selbst dann, wenn Daten unter formal hohen Standards erhoben worden sind. Der Fehler der Maßnahmenkritiker besteht darin zu behaupten, dieses Verhalten sei als solches „unwissenschaftlich“ oder gar irrational. Irrational und „unwissenschaftlich“ wird es nur, wenn selektiv zu eigenen Gunsten auf diese Weise verfahren wird, sofern man sich zuvor explizit oder implizit auf einheitliche Standards geeinigt hat.
[9] Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1991, S. 55.
[10] Vgl. Hume, Versuch über den menschlichen Verstand, S. 44.
[11] Vgl. John Leslie Mackie, The Cement of the Universe, London 1974, S. 59–87.
[12] Vgl. Paul Arthur Schilpp (Hg.), The Philosophy of Karl Popper, La Salle, Illinois 1974.
[13] Vgl. dazu Peter Janich, Kleine Philosophie der Naturwissenschaften, München 1997, S. 193ff.
[14] Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 13. Aufl. Frankfurt am Main 1996. Vgl. dazu Paul Hoyningen-Huene, Die Wissenschaftstheorie Thomas S. Kuhns, Braunschweig 1989.
[15] Vgl. Imre Lakatos, Philosophische Schriften, Wiesbaden 1982.
[16] Selbstverständlich gibt es auch heute noch Verteidiger des Kritischen Rationalismus. Eine kurze und gehaltvolle Verteidigung findet sich z.B. bei Gunnar Andersson, „Karl Popper und seine Kritiker“, in: Giuseppe Franco (Hg.), Handbuch Karl Popper, Wiesbaden 2019, S. 717–731.
[17] Vgl. Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2016. Vgl. Dies.: Wissenskulturen, Frankfurt am Main 2002.
[18] Als Beispiel für jüngere Betrungsfälle in Deutschland vgl. Mario Finetti/Armin Himmelrath, Der Sündenfall, Berlin 2012. In diesem Buch werden auch Faktoren genannt, die den Wissenschaftsbetrug begünstigen. Es sind dieselben, die auch Knorr-Cetina nennt.
[19] Vgl. Stuart Richie, Science Fictions, New York 2020.
[20] Vgl. Ebd., Kap. 2. John Ioannidis hatte dies schon bei klinischen Studien festgestellt.
[21] Ebd., S. 5.
[22] Vgl. Ebd., S. 6.
[23] Vgl. z.B. Jon Jueirdini/Leemon B. McHenry, The Illusion of Evidence-Based Medicine, Mile End 2020.
[24] Vgl. John Stuart Mill, Über die Freiheit, Stuttgart 2010.
[25] Vgl. Jacob L. Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie, 3. Bände, Göttingen 2013.
[26] Feyerabend wird sich im Grabe herumdrehen, als „Klassiker der Wissenschaftsphilosophie“ bezeichnet zu werden. Mir fällt aber in diesem Zusammenhang keine bessere Bezeichnung ein.
[27] Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 19.