Out to see

Out to see ist ein Film über John Ioannidis, den weltweit meistzitierten medizinischen Forscher, der – so schreibt sein Freund und Kollege Peter C. Gotzsche – „einer der schlimmsten Hexenjagden in der neuen Medizingeschichte zum Opfer“ gefallen ist. [1]

Ioannidis‘ „Sünde“ war, dass er früh zu bedenken gab, Corona sei möglicherweise nicht das Killervirus, zu dem es bereits erklärt worden war. Er verwies vollkommen zu Recht auf die miserable Datenlage und warnte, dass die drastischen Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus schlimmer sein könnten als das Virus selbst. Unter normalen Umständen wäre das nichts Besonderes gewesen, denn dergleichen ist mit gesundem Menschenverstand ohne weiteres nachvollziehbar. Die Umstände waren aber nicht normal. Stattdessen wurden Dauerpanik und brachiale Betriebsamkeit zur neuen Normalität.

Da Ioannidis bis zu diesem Zeitpunkt als der weltweit führende Epidemiologe galt, schoss man sich ebenso rasch wie heftig auf ihn ein. Bringt man den König zu Fall – so schien das Kalkül zu sein – so fallen mit ihm auch alle Großfürsten aus dem Reich der Widerspenstigen, zum Beispiel die Initiatoren der Great Barrington Declaration. Jeder noch so dümmliche Faktenchecker mit abgebrochenem Filmwissenschaftsstudium wusste es plötzlich besser und bekam Gelegenheit, kübelweise Geifer über Ioannidis auszukippen. War dessen Ruf erst einmal durch Media und Social Media ruiniert, konnten Verantwortliche wie Karl Lauterbach sich genüsslich zurücklehnen und behaupten, Ioannidis sei „extrem umstritten“, daher würde nicht zählen, was er sage. So einfach ist das, und es funktioniert leider bis heute.

Der Film ist allerdings keine „Opferstory“, sondern ein bebildertes Interview, in welchem sich Ioannidis so äußert, wie er es immer tut: sehr freundlich, sehr diplomatisch, sehr sachlich. Keineswegs plaudert er aus dem seelischen Nähkästchen, gibt wenig von seinen Gefühlen preis. Doch genau das macht ihn so sympathisch. Er scheint ein taktvoller, uneitler Mensch zu sein, der andere nicht über Gebühr mit seinen Befindlichkeiten behelligen mag.

Daher muss man schon genau hinhören. Denn das Schlimme, das ihm widerfahren ist, erwähnt er fast en passant – so zum Beispiel Todesdrohungen oder dass seine Mutter aufgrund des Stresses infolge der Rufmordkampagne beinahe gestorben wäre. Ioannids sagt ziemlich zu Beginn des Films, dass er auf diese heftigen Kampagnen nicht im mindesten vorbereitet war. Sie müssen ihn wie ein Schlag getroffen haben.

Ein weiteres Opfer von Rufmord ist der Chemie-Nobelpreisträger Michael Levitt. Ähnlich wie Ioannidis hatte er im Frühjahr 2020 aus den Daten des in Quarantäne liegenden Kreuzfahrtschiffes Princess Diamond geschlossen, dass SARS-CoV-2 kein Killervirus sein konnte. Hier ist Levitts Youtube-Kommentar zum Film :

Obwohl also wenig Gefühliges im Film vorkommt, zeigt er doch, was für ein liebenswerter Mensch Ioannidis offenbar ist. Diesen Eindruck hatte ich allerdings schon durch seine vorigen Video-Interviews gewonnen, von denen sich das Interview im Film nicht wesentlich unterscheidet.

Was seine inhaltlichen Positionen betrifft, muss man auch hier sehen, dass er sich stets sehr abwägend und vielschichtig ausdrückt. Wichtige Dinge werden bei ihm oft im Nebensatz oder ohne besondere Betonung ausgesprochen. Ich bin der Meinung, dass er ein zu positives Bild der Wissenschaft hat. Dass sie dadurch gekennzeichnet sei, Fehler und Irrtümer in den Dienst des Wissensfortschritts zu stellen, halte ich schlicht für einen Mythos.

Gar nicht nachvollziehen kann ich seine Position zur Covid-„Impfung“. Er vermag anhand der Daten nicht zu erkennen, dass diese „Impfungen“ ein verheerendes Nebenwirkungsprofil haben. Mir hingegen ist nicht klar, wie man das übersehen kann. Da Ioannidis sich aber grundsätzlich gegen jeden Zwang und Druck ausspricht, könnte man dies offen mit ihm diskutieren. Einen kompetenteren und zugleich faireren Gesprächspartner wird man meinem Eindruck nach kaum finden.

Ich würde zum Beispiel gerne mit ihm über seine Behauptung diskutieren, die Anzahl von Nebenwirkungs-Meldungen sei im Falle der Covid-Impfung durch öffentliche Aufmerksamkeit (netto) nach oben verzerrt. Diese Behauptung bestreite ich – wie ich meine – mit guten Argumenten (siehe mein imaginärer Brief an den Gesundheitsminister, etwa in der Mitte des Textes).

Fazit: Der Film ist sehenswert. Wer allerdings auf ein Porträt der Marke „Ioannidis privat“ hofft, wird sicher enttäuscht sein. Für mich ist das filmische Drumherum entbehrlich – die Szenen mit Kindern, Jugendlichen und ähnliches. Knuffig finde ich die Szenen, in denen Ioannidis durch Berlin stapft oder es sich in Griechenland gut gehen lässt.

Mir hätte auch eine einzige Kameraeinstellung und ein pures Interview gereicht. Aber das wäre wohl zu puristisch gewesen.

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[1] Vgl. Peter C. Gotzsche, Impfen – Für und Wider, 2. Aufl., München 2021, S. 192.

Brief an den Gesundheitsminister

Das Folgende ist ein imaginärer Brief an den amtierenden Gesundheitsminister. Der Brief ist eine Reaktion auf ein „persönliches Schreiben“ Lauterbachs an meine kürzlich verstorbene Mutter, welches eine Impfempfehlung enthält.

Sehr geehrter Professor Lauterbach,

am 13. Oktober habe ich ein Schreiben des Bundesministeriums für Gesundheit in Empfang genommen, in welchem Sie meine Mutter persönlich ansprechen (siehe Fotos unten). Sie vermuten, dass meine Mutter sich bereits gegen SARS-CoV-2 hat impfen lassen; vielleicht, so schreiben Sie, „auch schon mit der sogenannten Auffrischungsimpfung“, dem „Booster“. Nun empfehlen Sie eine weitere Impfung, diesmal gegen die Omikron-Variante, sowie eine Grippe- und eine Pneumokokkenimpfung.

Meine Mutter ist am 24. September im Alter von 84 Jahren ihrem schweren Krebsleiden erlegen. Sie war weder gegen SARS-CoV-2 geimpft noch jemals an Covid erkrankt und daher auch nie davon genesen. Wenn es indes nach Ihrer Voraussage vom Oktober 2021 gegangen wäre, hätte meine Mutter mit hoher Wahrscheinlichkeit spätestens im März 2022 verstorben sein müssen. Dasselbe gilt für mich, denn auch ich habe mir aus guten Gründen (siehe unten) niemals diese Substanzen injizieren lassen, war nie an Covid erkrankt und kam daher nie in den Genuss, offiziell als Genesener zu gelten. Seit über drei Jahren hatten meine Mutter und ich keine Erkältung mehr, nicht einmal einen kleinen Schnupfen.

Ich schreibe Ihnen also als „untoter“, aber kerngesunder Sohn einer nicht rechtzeitig verstorbenen Mutter, die zu keinem Zeitpunkt Probleme mit SARS-CoV-2 hatte, obwohl sie zur vulnerablen Gruppe gehörte und ihre Lungen mit Metastasen voll waren. Meine Mutter würde sich gewiss darüber amüsieren, dass ein besessener Gesundheitsminister sie quasi mit der Spritze in der Hand noch bis ins Reich der Toten verfolgt. Doch von dort dreht sie Ihnen nun eine lange Nase und ruft: „Du kommst hier nicht rein!“ Jedenfalls noch nicht.

Ihre Voraussage vom Oktober wirkte auf uns wie eine manifeste Todesdrohung – als ob der Tod allen „Unvernünftigen“ und „Unsolidarischen“ recht geschehe. Es leuchtet Ihnen vielleicht ein, dass unser Vertrauen in Sie schon aufgrund der genannten Horrorprognose nicht besonders ausgeprägt war. Natürlich können Sie immer behaupten, es liege nur an den wirksamen Maßnahmen oder an purem Glück, dass wir und Millionen Ungeimpfter nicht bereits im März gestorben sind. Wahrscheinlichkeitsaussagen sind ohnehin nicht widerlegbar. Wenn Sie sich selbst mit diesem rhetorischen Trick täuschen, muss man jedoch an Ihrer Denkfähigkeit zweifeln. Denn selbstverständlich kann ich dagegen immer behaupten, dass ohne Maßnahmen „wahrscheinlich“ noch weniger Menschen gestorben wären (siehe dazu diesen Aufsatz der Medizinstatistiker Lars Hemkens und Gerd Antes).

Beide Behauptungen sind empirisch äquivalent. Das Ergebnis, dass meine Mutter und ich im März noch gelebt haben und es bis heute Abermillionen „überlebender“ Ungeimpfter sowie Personen ohne Genesenenstatus gibt, ist mit beiden Aussagen auf identischer Datenbasis vereinbar. Es stände für Sie also im Bestfall 1:1. Der Schluss aber, dass 1. Corona nicht ein solches Killervirus ist, wie Sie behaupten, und 2. die Impfungen nicht so wirksam sind, wie Sie es propagieren, liegt mindestens gleich nahe. Dafür spricht auch, dass die Kliniken insgesamt laut offiziellen Zahlen zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise überlastet waren.

Das Sterbealter meiner Mutter entspricht ungefähr dem Medianalter der an und mit Covid Verstorbenen. Allein dieser Wert ist ein starker Hinweis darauf, dass SARS-CoV-2 kein derart gravierendes Risiko für die Gesamtbevölkerung darstellt, dass außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen werden müssten. Das Leben meiner Mutter war durch Corona offenbar genauso viel oder wenig bedroht wie durch viele tausend andere Faktoren auch, die zum allgemeinen Lebensrisiko gehören. 

Hätte meine Mutter nun ein positives PCR-Testergebnis gehabt, wäre sie statistisch den „Covid-Toten“ zugeschlagen worden, die laut Robert Koch-Institut ohne dieses Ergebnis im Schnitt noch zehn Jahre länger gelebt hätten. Wie Sie wissen, abstrahiert das Robert Koch-Institut hier allerdings von allen Vorerkrankungen. Ohne Krebs wäre meine Mutter gewiss älter geworden, wahrscheinlich sogar zehn Jahre oder mehr. Um so etwas vorauszusagen, braucht man kein Robert Koch-Institut. 

Ein positiver PCR-Test hätte selbst mitsamt Erkältungssymptomen das Leben meiner Mutter nicht nennenswert verkürzen können, hat sie doch noch im Winter 2017/18 eine schwere, sehr langwierige Grippe unbeschadet überstanden. Hätte sie im Sterben liegend eine Lungenentzündung bekommen, wäre das eher ein Segen gewesen. Ich habe zwanzig Monate Zivildienst im Krankenhaus gemacht und viele Sterbende gepflegt. Die Lungenentzündung war meist ihr geringstes Problem, wurde oft sogar willkommen geheißen. Interessant wäre die Gegenrechnung, wie viele Lebensjahre Patienten mit der Diagnose „Covid“ zum Beispiel durch frühzeitige Intubation und andere Überbehandlungen verloren haben. Doch da herrscht bei Ihnen Schweigen im Walde.

Einen Wirkstoff, der bis heute nur eine bedingte Zulassung hat, als nebenwirkungsfrei zu bezeichnen, wie Sie es getan haben, widerspricht sowohl der Logik des Zulassungsverfahrens als auch allen Erfahrungen mit Arzneimitteln. Sogar die Daten des Paul-Ehrlich-Instituts zeigen, dass Ihre Behauptung nicht stimmen kann. Eine aktuelle Hochqualitäts-Studie von Peter Doshi et al. bestätigt dies ebenfalls anhand offizieller Daten. Dass nun diese Studie vom BR-„Faktenfuchs“ unter anderem mit dem Hinweis abqualifiziert wird, die Daten seien schlecht, ist an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Denn mit Rekurs auf genau diese schlechten Daten wurden die Impfstoffe genehmigt und für hochwirksam erklärt. Sie selbst hatten anlässlich des Desasters rund um den Blutfett-Senker Lipobay im Jahr 2001 bemängelt, „dass bei der Einführung von neuen Medikamenten Langzeitstudien fehlten, mit denen sich der Nutzen, aber auch das Nebenwirkungsrisiko ermitteln ließen.“ Korrigieren Sie mich — aber hatten Sie Lipobay nicht zuvor empfohlen?

Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung waren im Jahr 2021 2,5 Millionen Patienten mit unerwünschten Wirkungen der Covid-Impfung beim Arzt. Die Versuche der KBV, diese Zahlen zu relativieren, sind zum Scheitern verurteilt:

Expertinnen und Experten haben immer wieder betont, dass die hohe öffentliche Aufmerksamkeit während der Pandemie auch zu mehr Meldungen möglicher Impfreaktionen und -nebenwirkungen führt.

So kann man als Befürworter der Impfungen nicht argumentieren, ohne sich ins Aus zu katapultieren. Denn auf identische Weise kann man alle Covid- und Long-Covid-Schäden relativieren. Beides ist logisch äquivalent. Man könnte also ohne Weiteres sagen: Durch die öffentliche Aufmerksamkeit schreiben Bürger und medizinisches Personal mehr Beschwerden Covid und Long Covid zu, als wenn es keine öffentliche Aufmerksamkeit gäbe (von finanziellen Fehlanreizen einmal ganz abgesehen). Wie die bizarre Performance der von Ihnen als Long-Covid-Opfer präsentierten Frau Stokowski zeigt, kommt diese Dame infolge öffentlicher Aufmerksamkeit nicht einmal auf die Idee, dass ihre Symptome auch auf die Impfung zurückzuführen sein könnten. Und das, obwohl diese Symptome angeblich erst nach dem „Booster“ auftraten.

Wenn im Fall der Impfnebenwirkungen mit dem Hinweis auf öffentliche Aufmerksamkeit gesagt werden soll, dass die Impfung insgesamt kein relevantes Gesundheitsrisiko darstellt, kann man mit gleicher Berechtigung dasselbe auch über Covid sagen. Dann wiederum entfiele jegliche Begründung für strenge Maßnahmen sowie für die Impfungen selbst.

Hinzu kommt, dass in den Leitmedien wenig über unerwünschte Impfwirkungen berichtet wird, während Covid dort dauerpräsent ist. Die öffentliche Aufmerksamkeit richtet sich also weit mehr auf Covid. Würde jeden Tag statt über Covid in reißerischer Manier über unerwünschte Wirkungen der Impfungen berichtet, gäbe es womöglich 25 statt 2,5 Millionen Patienten, die beim Arzt gegen Impfnebenwirkungen behandelt würden. Frau Stokowski hätte dann sicher keinerlei kognitives Problem, ihre Symptome auf die Impfung zurückzuführen.

In Wirklichkeit gibt es im Falle von Covid ein starkes gesellschaftliches Tabu, Impfschäden zu benennen. Ärzte haben keinen Anreiz, diese zu melden, sondern schon aufgrund des bürokratischen Aufwands nur Anreize, solche Meldungen zu unterlassen. Wer einen Impfschaden bekommt, gilt schnell als „Covidiot“ und wird geächtet. Hat man hingegen „Long Covid“, wird man geachtet und erhält viel narzisstische Zufuhr. Ich vermute, dass die Aussicht auf letztere Frau Stokowski dazu motiviert hat, sich für Ihre Kampagne zur Verfügung zu stellen.

Long Covid ging schon viral, als es noch viel zu früh war, um Langzeitfolgen feststellen zu können. Der Rest kann wohl zum großen Teil als Selfullfilling Prophecy verbucht werden. Das ist wie mit den Menschen, die Sport treiben und sich als unsportlich empfinden. Im Gegensatz zu Personen, die sich für sportlich halten, erleben sie jede Trainingseinheit als anstrengend und nehmen sie als Bestätigung ihrer Unsportlichkeit. Der Trainingserfolg fällt dementsprechend geringer aus. Wenn jemand sich als Opfer von Covid empfindet, wird er wahrscheinlich schlechter genesen, als wenn er meint, an einem normalen grippalen Infekt erkrankt zu sein. Long Covid bei Kindern ist ein noch größeres Phantasma und taugt vor allem als Rechtfertigung für Eltern mit Münchhausen-Syndrom, ihre eigenen Kinder durch Masken und Off-Label-„Impfungen“ krank zu machen. Wie sich gezeigt hat, scheint dieses Syndrom weit verbreitet zu sein.

Die Behauptung, Meldungen von unerwünschten Wirkungen der Covid-Impfung seien aufgrund der öffentlichen Aufmerksamkeit nach oben verzerrt, entbehrt jeder Grundlage. Ganz sicher nach oben verzerrt sind Meldungen schwerer Langzeitfolgen infolge von Covid. Ich bin sogar der Ansicht, dass „Long Covid“ nichts anderes ist als ein zur Diagnose gehypter Bias.

Kurz und gut: Entweder, Sie nehmen alle Nebenwirkungsmeldungen genauso ernst wie alle Covid-Diagnosen – oder eben beide nicht. Das Resultat ist in jedem Fall, dass Massenimpfungen gegen Covid nicht rational begründet werden können. Wird beides nicht ernst genommen, entfällt die Begründung ohnehin; wird beides gleich ernst genommen, sind die unerwünschten Wirkungen so zahlreich und schwerwiegend, dass die Impfstoffe vom Markt genommen werden müssen.

Alles in allem sind Ihre Einlassungen derart ungereimt, dass schon allein deshalb kein Vertrauen in Sie entstehen kann. Ich könnte viele weitere Äußerungen von Ihnen zum Thema Corona zitieren, die bei mir den Eindruck Ihrer starken Übermotivation hinterlassen, welche dem Ziel, die Gesundheit der Gesamtbevölkerung zu erhalten und zu verbessern, im Wege steht. Von erwähnter Übermotivation ist nun auch Ihr Schreiben geprägt, denn es enthält – höflich ausgedrückt – eine Reihe gewagter Behauptungen, die strenger wissenschaftlicher Überprüfung nicht standhalten und überdies der Plausibilität entbehren. 

Was letztere betrifft: In meiner Abhandlung Auf verlorenem Posten habe ich begründet, warum jegliches Befürworten von Anticoronamaßnahmen argumentativ aussichtslos ist, sofern Anspruch auf Rationalität und Wissenschaftlichkeit erhoben wird (mit Bezug auf die Impfungen siehe besonders S. 41–44). Diesen Anspruch erheben Sie ostentativ immer wieder, können ihn aber nicht einlösen. Ihre Impfempfehlung ist schon allein aus diesem Grund haltlos.

Es heißt von Ihnen, dass Sie viele Studien lesen. Lesen und verstehen sind aber zweierlei. Ich habe ebenfalls unter anderem die Zulassungsstudien der Impfstoff-Hersteller BioNtech/Pfizer, Moderna, Astra Zeneca gelesen und muss Sie ernsthaft fragen, wie Sie von den Resultaten dieser Studien zu Ihren Impfempfehlungen kommen. Schon am 18. November 2020 stießen Sie mit dem Pianisten Igor Levit auf den „Durchbruch der Impfstoffe von Biontech und Moderna“ an. Anlass waren Erfolgsmeldungen der Hersteller über das Erreichen „aller primären Endpunkte“.

Solche Meldungen gehören aber zur Werbung und zum Marketing der Hersteller. Ein Gesundheitsminister sollte sie mit Vorsicht genießen, statt sie mit einem Glas Wein zu begießen. Wie jeder sehen konnte, bestanden diese „primären Endpunkte“ aus bloßen surrogate endpoints, die für eine Risikobewertung der geprüften Substanzen nebensächlich waren. Der Fremdschutz wurde ohnehin nie geprüft. Dies wurde jüngst bei einer Anhörung vor dem EU-Parlament von der Pfizer-Managerin Janine Small ausdrücklich bestätigt.

Selbst die Relative Wirksamkeit von etwa 95 Prozent – ein reiner Marketing-Parameter – musste mit einem großen Fragezeichen versehen werden, wie Peter Doshi, ehemaliger Mitherausgeber des British Medical Journal, bereits im November 2020 kritisierte. Doshi legte auch dar, warum das Studiendesign gar nicht dazu geeignet war zu zeigen, dass die Impfstoffe Leben retten. Aufgrund der geringen Fallzahl konnte zudem keine valide Aussage über „schwere Verläufe“ getroffen werden.

Wie in der Follow-Up-Studie zu sehen (Tabelle 4), zeigte sich beim einzig harten Parameter – der Gesamtsterblichkeit unter Absehung aller Todesursachen – schon rasch kein Vorteil, sondern ein Nachteil in der Interventionsgruppe. Führende Experten warnten unter anderem wegen der methodischen Mängel solcher Studien vor einer Impfpflicht. Von der nachgewiesenen Manipulation bei Pfizer ganz zu schweigen. 

Ihre Aussage, viele Menschen würden der Impfung ihr Leben verdanken, ist daher höchst irreführend. Es ist zwar theoretisch möglich, dass manche Einzelpersonen der Impfung tatsächlich ihr Leben verdanken. Niemand kann das Gegenteil beweisen. Doch für Sie als Gesundheitsminister muss ausschlaggebend sein, ob die Impfung insgesamt mehr nützt oder schadet. Wenn in der Interventionsgruppe mehr Menschen sterben als in der Kontrollgruppe, kann man mit Ihrer Logik behaupten, dass sie mehr Menschen das Leben kostet, als sie Menschen vor dem Tod bewahrt. Dies wiederum ist gewiss nicht der Zweck einer Impfung. Korreliert die Impfquote positiv mit erhöhter Gesamtsterblichkeit, taugt die Impfung offenbar nicht viel oder gar nichts:

Quelle: Destatis

Die Übersterblichkeit pro Woche ist in Deutschland seit Beginn der Impfkampagne deutlich höher als vorher (um 61 Prozent erhöht).

Die Herstellerstudien waren nicht nur irreführend konzipiert, sondern auch unzureichend verblindet und damit wertlos, denn unzureichende Verblindung verzerrt das Ergebnis um durchschnittlich 68 Prozent in Richtung des gewünschten Ergebnisses. Dass Pfizer die Kontrollgruppe de facto aufgelöst hat, dürfte Ihnen überdies nicht entgangen sein. Zitat Peter Doshi:

Nach durchschnittlich nur zwei Monaten Beobachtungszeit nach der zweiten Dosis wurde für beide Impfstoffe die Eilzulassung beantragt und gleichzeitig die Studien entblindet, das heißt: Den Teilnehmern der Placebogruppen wurde angeboten, sich impfen zu lassen. Sechs Monate nach Studienbeginn waren dann nur noch sieben Prozent der Studienteilnehmer verblindet. Damit wurden die Impfstoff- und Placebogruppen immer weniger vergleichbar.

Das ganze Verfahren war also eine Farce und ist es bis heute.

Nach all dem, was sich bereits vor fast zwei Jahren deutlich abzeichnete, ist es ziemlich eigenartig, dass Sie in dem Schreiben an meine Mutter behaupten: „Eines der wirkungsvollsten Mittel gegen SARS-CoV-2 bleibt die Impfung“. Vom Fremdschutz reden Sie klugerweise nicht, stattdessen von „schweren Verläufen“ und von „unterbrochenen Infektionsketten“. Eine solide empirische Grundlage haben diese Behauptungen nicht. 

War die Impfempfehlung für die vorigen Varianten schon ohne stichhaltige Begründung, so ist sie gegen die Omikron-Variante geradezu grotesk. Beispielsweise hat die Omikron-Variante laut einer Studie, die in Kalifornien durchgeführt wurde, nur eine Fallsterblichkeit (Case Fatalty Rate) von 0,007 Prozent, was wesentlich geringer ist als bei einer leichten Grippe. Warum sollte sich irgend jemand mit einer Substanz dagegen schützen, die überhaupt noch nicht am Menschen getestet worden ist? 

Das führt mich zu Ihren Empfehlungen der Influenza-Impfung. Die geringe Wirkung der Covid-Impfstoffe war nämlich von vornherein wahrscheinlich, da Impfungen gegen respiratorische Viren generell kaum Aussicht auf medizinischen Erfolg haben. Influenzaviren mutieren noch häufiger und wirkungsvoller, weil sie ganze Segmente vertauschen können. Die Impfung gegen Influenza hat jedoch keinerlei signifikanten Nutzen. Man muss 71 Personen impfen, um eine Person vor einer Ansteckung zu schützen. Es gibt keinen Effekt auf Krankenhauseinweisungen, Krankschreibungen und Todeszahlen.

Das sind die Ergebnisse eines Cochrane Reviews, welches 52 Studien einbezieht. Dieses Review hat eine weit höhere Evidenz als alle Studien, die von den Produzenten der Covid-Impfstoffe veröffentlicht worden sind. Erkennen Sie letztere an, müssen Sie die Resultate des Reviews erst recht anerkennen, sofern Sie nicht offen mit zweierlei Maß messen wollen.

Man sollte nun meinen, dass die Impfung gegen das weniger wandelbare Coronavirus besser ist. Trotzdem müssen laut Herstellerstudien bei Moderna 76, bei Astra Zeneca 78, bei Gamaleya 80, bei Johnson & Johnson 84 und bei BioNtech/Pfizer 117 Personen geimpft werden, um eine einzige Infektion zu verhindern. Und als „Infektion“ gilt bloß ein positiver PCR-Test plus ein bis zwei Symptomen, die auch typisch für eine große Anzahl anderer respiratorischer Viren sind, auf die aber wiederum nicht getestet wurde. 

Dass die STIKO angesichts solcher Unsicherheiten Substanzen empfiehlt, die keine oder nur geringe Wirkung haben, eindeutig kontraindiziert und zum Teil nicht einmal am Menschen getestet sind, zeigt wohl vor allem, dass sie keineswegs – wie Sie behaupten – unabhängig ist, sondern offenkundig unter starkem politischem Druck steht. 

Ich kann nur darüber spekulieren, was Sie persönlich antreibt. Alles was Sie tun, ist im Hinblick auf den Zweck, die Gesundheit der Gesamtbevölkerung zu erhalten, zweifelhaft bis kontraproduktiv. Eine nachweisbar positive Wirkung hat Ihr Tun immer nur im Hinblick auf den Profit bestimmter Unternehmen der Gesundheitsbranche, zum Beispiel Pfizer. Allein BioNtech konnte im Jahr 2021 zehn Milliarden Gewinn machen. Mit den geringen Standards, mit denen Sie die positive Wirkung der Covid-Impfstoffe als erwiesen betrachten, könnte man auch Ihre persönliche Motivation, im alleinigen Interesse jener Unternehmen zu agieren, als erwiesen betrachten.

Dieses Interesse ist mit dem Interesse der Bevölkerung, gesund zu bleiben, nicht deckungsgleich. Denn große Pharmafirmen können sich – den Gesetzen der Ökonomie folgend – eine weitgehend gesunde Bevölkerung gar nicht leisten, die kaum medizinische Behandlungen in Anspruch nimmt. Sie investieren sehr viel, und das muss sich auf Dauer rechnen. Ohne die Covid-Impfkampagne wäre zum Beispiel die mRNA-Technologie wahrscheinlich auf Eis gelegt worden. Firmen wie Moderna hatten damit zuvor nur Verluste eingefahren.

Das an sich legitime Gewinninteresse muss also im Gesundheitsbereich politisch eingeschränkt werden, damit es zum Wohle aller wirken kann. Zumindest sollten sich ein Gesundheitsminister, eine Regierung, eine EU-Kommision jenes private Profit-Interesse nicht hundertprozentig zu eigen machen. Ich kann aber bei den Genannten keinlerlei Distanz erkennen, sondern eher das Bestreben, alle „lästigen“ gesetzlichen Hürden zu umgehen oder gar zu beseitigen.

„Wer den Zweck will, muss auch die Mittel wollen“, sagt Immanuel Kant. Die von Ihnen verwendeten Mittel sind rational nur im Hinblick auf den erwähnten Zweck der Gewinnmaximierung. Als eines dieser Mittel interpretiere ich auch Ihr Schreiben an meine verstorbene Mutter. Es fügt sich nahtlos in die Reihe manipulativer, unlauterer Praktiken ein, mit denen die Menschen seit 2020 zur Covid-Impfung überredet und gezwungen werden sollen. Personen, die auf ihrem Recht bestehen, über ihren Körper selbst zu bestimmen, sind bis heute aggressiver, politisch gewollter und medial befeuerter Diskriminierung ausgesetzt.

Dies hat meiner Mutter schwer zu schaffen gemacht, da sie selbst davon betroffen war. Am Ende ihres Lebens musste sie sich wie ein Mensch zweiter Klasse behandeln lassen – brutal, rücksichtlos, unmenschlich. Sie hat im Streit um Corona auch noch Freunde verloren. Freunde sind für alte, kranke und immobile Menschen besonders kostbar, ihr Verlust ist umso schmerzlicher.

Ich mache Sie persönlich für diesen Verlust verantwortlich, da Sie es bis heute nicht unterlassen können, mit Hilfe geballter Medienmacht Öl ins Feuer zu gießen. Ein verantwortungsvoller Politiker würde das Gegenteil tun, würde beruhigend auf die Bevölkerung einwirken, anstatt sie mit immer neuen Horrorszenarien in Panik zu versetzen und sie damit gegeneinander aufzuhetzen.

Meine Mutter hatte ihren Verstand beisammen, ließ sich weder einschüchtern noch manipulieren und hielt bis zuletzt dem Druck stand. Ich bin stolz auf sie. Auch wenn Ihr Ministerium nicht wissen konnte, dass meine Mutter verstorben ist, mutet Ihr Schreiben wie ein makabrer Scherz an. Ich möchte daher mit meiner ersten spontanen Reaktion darauf schließen – einem abgewandelten Satz aus der Kultserie Breaking Bad:

„Shut the fuck up and let her rest in peace!“
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The absence of thinking

To prove or not to prove …

Der Twitterer Argo Nerd leistet verdienstvolle Arbeit. Er zitiert per Screenshot öffentliche Aussagen von Personen und stellt diesen widersprechende Aussagen derselben Personen gegenüber:

Leider hat Frau Berndt insofern recht, als Wissenschaftler tatsächlich so etwas Törichtes sagen. In dieser Arbeit zur Wirkung von Atemschutzmasken behaupten die Autoren zum Beispiel:

However, there is an essential distinction between absence of evidence and evidence of absence. 

Worin diese essential distinction bestehen soll, erläutern sie jedoch nicht. Das verwundert auch wenig, denn es gibt nicht einmal eine unessential distinction, sondern lediglich eine essential tautology. Fehlen nämlich die Beweise, sind sie offenkundig nicht da.

Gemeint ist wohl: Beweise, die zum Zeitpunkt x fehlen, könnten zum späteren Zeitpunkt y vorliegen. Es gilt aber auch umgekehrt: Liegen zum Zeitpunkt x Beweise vor, könnten sie zum späteren Zeitpunkt y nicht mehr vorliegen. Frau Berndt müsste also folgendem Satz zustimmen: The presence of evidence ist not the evidence of presence. Wenn Ihnen das absurd vorkommt, liegen Sie richtig. Es ist aber kein Gran absurder als die ursprüngliche Fassung von Frau Berndt.

Though this be madness, yet there is method in’t

Bullshit proven. Case closed? Leider nicht. Der Zweck solcher Sophismen ist es nämlich, über den nackten Tatbestand hinwegzuschwurbeln, dass im konkreten Fall die postulierten Schlussfolgerungen nicht begründet werden können. Man will sich auf diese Weise der Beweislast entledigen. In der Wissenschaftspraxis haben Studien mit negativen Resultaten generell schlechte Chancen, publiziert zu werden. Wissenschaftler müssen jedoch auf Teufel komm heraus publizieren, weil ihre Reputation davon abhängt, wie viel sie publizieren und wie oft sie zitiert werden. Im Fall der Nichtpharmazeutischen Interventionen gegen Corona kommt erschwerend hinzu, dass ein immenser polititscher Druck herrscht, die Wirkung derselben zu erweisen. Will man weitere Forschungsaufträge erhalten, vermeidet man es tunlichst, seine Geldgeber mit negativen Resultaten zu verstimmen.

Aus diesem Grund sollte man in wissenschaftlichen Studien vor allem die Kapitel über Methoden und Resultate lesen sowie – wenn vorhanden – die Anhänge. In letzteren findet man oft die wirklichen Ergebnisse, welche mit dem, was im Abstract steht, häufig gar nichts zu tun haben. Schon in der normalen Wissenschaftspraxis werden minimale Effekte oder sogar Nulleffekte gewohnheitsmäßig via Abstract und Pressemitteilung zu bedeutsamen Effekten hochstilisiert. Dieser ganz gewöhnliche Hype wird in Zeiten starken politischen Drucks überdimensional vergrößert.

Da sich harte Evidenz partout nicht einstellen will, vertraut man einfach auf die Dummheit der (Wissenschafts-)Journalisten und ihrer ebenso hochmütigen wie grundstupiden Nachplapperer. Sie nehmen obiges Geschwurbel für bare Münze und tragen es mit Verve in die Welt hinaus – genauso, wie sie am Beginn der „Pandemie“ andere über exponentielles Wachstum „aufgeklärt“ haben.

Ich habe ad nauseam dargelegt, dass die Begründungslast allein beim Behauptenden und nicht beim Bestreitenden liegt. In der Statistik konkretisiert sich das folgendermaßen: Es wird eine Alternativhypothese formuliert (z.B. „Masken wirken“) und an der korrespondierenen Nullhypothese („Masken wirken nicht“) getestet. Hat erstere keine höhere Evidenz, gilt weiter die Nullhypothese. Der vermutete Zusammenhang kann dann nicht bewiesen werden. Selbstverständlich darf dies auch anders ausgedrückt werden, indem man zum Beispiel sagt: The absence of evidence is proven.

Man sollte das Denken den Pferden überlassen

Die beiden Zitate von Christine Berndt sind nur ein Beispiel für das unterirdische geistige Niveau, mit dem seit über zwei Jahren strengste Grundrechtseinschränkungen gerechtfertigt und schlimmste Verwerfungen verursacht werden. Es ist aber nicht von heute auf morgen unter Null gesunken. Das Grundübel besteht darin, dass auch bei formal Gebildeten kaum Wert auf logisches Denken gelegt wird, sondern vor allem auf Haltung. Logische Widersprüche tun ihnen einfach nicht weh. Assoziativ „denken“ können aber auch die Mollusken.

Bereits vor fünfzig Jahren schrieben Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen:

Woran es heute fehlt, ist […] die Disziplin des Denkens und Redens […]. Die Disziplinlosigkeit des monologischen Drauflosschreibens und Aneinandervorbeischreibens in fast allen Bereichen […] ist erschreckend, obwohl gerade dies von den Betroffenen meist gar nicht bemerkt wird, weil es Maßstäbe und Regeln des disziplinierten Dialogs nicht gibt.*

Da es solche Regeln nicht gibt bzw. diese nicht bekannt sind, können sich die Leute öffentlich um Kopf und Kragen reden, ohne dass sie befürchten müssen, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Homöopathie wird verdammt, weil ihre Wirkung nicht mit hoher Evidenz bewiesen werden kann und weil sie den Menschen „schadet“. Zugleich glaubt man an die Wirkung von Lockdowns, Masken- und Impfzwang so fest wie die Azteken an die Wirkung ihrer Menschenopfer. Würde Frau Berndt sich bei den Azteken über diese Praxis beklagen, könnten diese gelassen antworten:

However, the absence of evidence is not evidence of absence.

Frau Berndt bliebe dann nur, ihnen viel Erfolg, guten Appetit oder dergleichen zu wünschen und sich womöglich als Nachspeise zur Verfügung zu stellen. Kritisieren dürfte sie daran jedenfalls aus rationaler Perspektive nichts.

Fazit

Ich halte es für ein großes Problem, dass auch Kritiker restriktiver Maßnahmen ihrerseits kaum Wert aufs Denken legen. Es reicht aber nun einmal nicht, auf Widersprüche wie den oben gezeigten nur hinzuweisen. Man müsste Befürworter generell und systematisch auf ihre argumentativen Dilemmata festnageln (wie das geht, habe ich hier ausführlich erläutert). Stattdessen werden lange Debatten zum Beispiel darüber geführt, ob Homöopathie und Maßnahmen nun „wirklich“ wirken oder nicht. Da immanente Kritik bloße Standpunktkritik übertrumpft, sollte man allenfalls dann über die „wirkliche Wirklichkeit“ diskutieren, wenn bezüglich Konsistenz und Kohärenz nichts auszusetzen ist. Letzteres kommt jedoch sehr selten vor, schon gar nicht bei den Befürwortern der Nichtpharmazeutischen Interventionen gegen Corona.

Aber ich wiederhole mich. Wer es bis jetzt nicht begriffen hat, wird es nie begreifen.

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* Kamlah/Lorenzen, Logische Propädeutik, 3. Aufl., Stuttgart, Weimar 1972, Einleitung

Kritische Wissenschaft?

Nicht gewusst, wie 

In der öffentlichen Diskussion um Corona fällt besonders auf, dass sich nicht nur ständig auf Wissenschaft berufen wird, sondern auf eine Wissenschaftstheorie bestimmten Typs, deren Schöpfer Karl Raimund Popper war. Es wäre kein Problem, wenn Popper als Person weiter verehrt würde. Ein Problem ist jedoch, dass seine Theorie in Gestalt einiger Versatzstücke noch immer als non plus ultra präsentiert wird – meist mit dem triumphierenden Gestus desjenigen, der anderen erklärt, „wie Wissenschaft funktioniert“. Das lässt auf ein bedenkliches Maß an Selbsttäuschung schließen.

Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass auch viele sachkundige Kritiker der strengen Coronamaßnahmen ihr erliegen. Als typisches Beispiel soll hier ein Artikel des praktizierenden Naturwissenschaftlers Andreas Zimmermann (Pseudonym) dienen. Während etwa Natalie Grams und Eckart von Hirschhausen mit dem Impfomat geistig auf dem absoluten Nullpunkt agieren, legt Zimmermann mit methodischer Strenge dar, dass die Covid-Impfungen alles andere als harmlos sind.[1] Leider belässt er es nicht dabei und verkündet unter der Überschrift „Wissenschaft lebt vom Zweifel – im Gegensatz zur Ideologie“ Folgendes:

„Die wissenschaftliche Vorgehensweise funktioniert nämlich so, dass man zunächst eine Hypothese aufstellt und dann versucht, diese zu widerlegen. Wissenschaft lebt also aus Prinzip vom Zweifel – im Gegensatz zur Ideologie, bei der die ,Wahrheit‘ von vornherein feststeht und Zweifel an ihrer Richtigkeit deshalb nicht erlaubt sind.“[2]

Keineswegs funktioniert aber „die wissenschaftliche Vorgehensweise“ so wie beschrieben, und das nicht nur, weil es die wissenschaftliche Vorgehensweise überhaupt nicht gibt. Was der Autor andeutet, ist lediglich eine Vorgehensweise, die Popper sich in den 1930er Jahren ausgedacht hat,[3] und zwar als Norm, nicht als faktische Beschreibung dessen, was tatsächlich geschieht. Das Problem daran ist, dass Wissenschaft erstens noch nie so vorgegangen ist und es zweitens auch vollkommen unsinnig wäre, so vorzugehen. Der Unsinn hat jedoch einen berühmten Namen und heißt „Falsifikationismus“, welcher wiederum das Kernstück des Kritischen Rationalismus bildet. 

Falsifikation als Lösung

Wissenschaftler erscheinen im Kritischen Rationalismus als mutig, originell und selbstlos. Sie formulieren Hypothesen nicht einfach deshalb, weil sie etwas prima facie für zutreffend halten und durch gewisse Prozeduren bestätigen wollen. Nein. Sie stellen ihre Hypothesen auf wie Delinquenten, um sie so lange zu beschießen, bis sie tot umfallen. Danach wird sogleich die nächste Hypothese aufgestellt und ebenfalls standrechtlich erschossen. So geht es im Akkord weiter, denn genau darin besteht laut dem Kritischen Rationalismus die wissenschaftliche Vorgehensweise. Ein paar robuste Opfer überleben den Beschuss, werden als „vorerst nicht falsifiziert“ auf Bewährung entlassen, bis sie irgendwann erneut in die Fänge eines professionellen Hypothesenkillers geraten. So schreitet die Wissenschaft im Rückwärtsgang fort – einer Wahrheit entgegen, die zwar unerreicht und unerkennbar sei, der man aber näherkomme, indem man möglichst viele Hypothesen in beschriebener Weise traktiert und füsiliert.[4]

Popper war stolz darauf, eine ärgerliche Rationalitätslücke der Wissenschaft geschlossen zu haben. Die Naturwissenschaft war lange Zeit damit beschäftigt, Naturgesetze zu „entdecken“, die sich dadurch auszeichnen, dass sie uneingeschränkt gelten. Wissenschaftler „entdeckten“ diese Gesetze, indem sie systematisch von der Vergangenheit auf die Zukunft schlossen (Induktion). In der neuzeitlichen Wissenschaft wurde dieses Prinzip zur wissenschaftlichen Methode schlechthin – vor allem in Gestalt von Experimenten, die bei beliebiger Wiederholung immer zum gleichen Ergebnis führten. Das logische Problem bestand darin, dass Naturgesetze im strengen Verständnis als Allsätze formuliert werden müssen, zum Beispiel „Für alle x gilt …“ oder „Immer wenn …“. Allsätze können aber niemals durch Induktion bestätigt (verifiziert) werden. Trotz der Tatsache, dass die Sonne bisher so oft und regelmäßig am Morgen aufgegangen ist, kann niemals ausgeschlossen werden, dass sie es morgen nicht mehr tun wird. 

David Hume hatte bereits Mitte des 18. Jahrhunderts überzeugend dargelegt, dass die Induktion als Verfahren nicht rational begründbar ist.[5] Denn alle denkbaren Versuche einer solchen Begründung beruhen notwendig ihrerseits auf Induktionsschlüssen, sind also immer zirkulär. Humes Befund ist bis heute gültig. Will die Wissenschaft sich anderen Verfahren gegenüber als besonders rational ausweisen und besteht diese Rationalität in der induktiven Methode, muss sie scheitern. Popper meinte jedoch, den Stein der Weisen gefunden zu haben: Zwar können Allsätze nicht durch Induktion bestätigt, aber durch ein einziges Gegenbeispiel widerlegt (falsifiziert) werden. 

Macht man also die Falsifikation zum Prinzip der Wissenschaft, ist die Lücke geschlossen. Humes Kritik an der Induktion wird von Popper voll anerkannt. Der Kritische Rationalismus zerschlägt den Gordischen Knoten, indem er behauptet, auf Induktion nicht angewiesen zu sein. Sie wird als illegitimes, weil irrationales und überflüssiges Verfahren des wissenschaftlichen Feldes verwiesen. Der Kerngedanke lautet: Wir können zwar nicht sagen, was richtig ist, aber wir wissen per Falsifikation, was falsch ist, und können es aus dem Korpus der Wissenschaft entfernen. 

Popper erklärt die Falsifikation zum alleinigen Abgrenzungskriterium von Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Letztere liege immer dann vor, wenn sie als Wissenschaft auftritt, deren Thesen aber nicht widerlegbar seien. Theorien und Hypothesen müssen „an der Wirklichkeit scheitern“ können. Die Skepsis soll in diesem System eine besonders prominente Stellung haben und zugleich daran gehindert werden, es vollends zu sprengen. 

Der Kritische Rationalismus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg begeistert aufgenommen. Popper war weit und breit der einzige Philosoph, den Naturwissenschaftler ernst nahmen – dies jedoch wohl nicht nur wegen seiner Beweisführung, sondern unter anderem aufgrund der schmeichelhaften Rolle, die er den Wissenschaftlern in seinem System zugedacht hatte. In der Wissenschaftstheorie sind alle Varianten des Falsifikationismus inzwischen nicht einmal mehr Gleiche unter Gleichen, während praktizierende Wissenschaftler und gebildete Laien von ihnen als vermeintlichem Königsweg partout nicht lassen mögen. 

Falsifikation als Problem

Von den zahlreichen möglichen Kritikpunkten[6] sei die Selbsttäuschung herausgegriffen, ohne Induktionsschluss auch nur einen einzigen Schritt tun zu können. Zwar hat Popper die Rationalitätslücke der empirischen Wissenschaft an einer Stelle geschlossen, dabei aber an anderer Stelle einen Graben aufgerissen. Norbert Hoerster schreibt dazu: „Die ‚kritischen Rationalisten‘ gehen in ihrer Theorie […] immer wieder stillschweigend von Voraussetzungen aus, die sie zuvor ausdrücklich als unbegründet, irrational und überflüssig verworfen haben.“[7] Wenn der Schluss von der Vergangenheit auf die Zukunft unzulässig ist, wie Popper meint, wie kann er dann überhaupt irgendeine Hypothese oder Theorie als „vorläufig nicht falsifiziert“ und damit als „bewährt“ bezeichnen? In dem Moment, in dem er dies tut, schließt er bereits von der Vergangenheit auf die Zukunft. 

Er kann auch niemals Beobachtungsdaten heranziehen, weil Daten, sobald sie vorliegen, Resultat vergangener Untersuchungen, Experimente und dergleichen sind. In dem Moment, in welchem man ein Paper liest, könnten dessen Resultate schon nicht mehr stimmen. Unmittelbar nachdem eine Theorie oder Hypothese für falsifiziert erklärt wurde, müsste sie sogleich wieder auf den Prüfstand. Der Ausgang hätte auch nach einer Milliarde Versuchen mit identischem Ergebnis als ungewiss zu gelten. Die Tatsache, dass eine Milliarde Versuche das gleiche Ergebnis hatten, könnte sogar zur Annahme verleiten, gerade deshalb sei ein anderes Resultat umso wahrscheinlicher. 

Beobachtungsdaten sind ohnehin eine unzureichende Grundlage. Mit dem Verweis auf sie allein kann nichts wirklich falsifiziert oder verifiziert werden.[8] Es müsste schon vorab ein Konsens erzielt werden, wann eine bestimmte These als falsifiziert zu gelten habe. Dann aber wäre nicht Falsifikation, sondern der Konsens das bestimmende Metaprinzip. Unabhängig vom Induktionstabu gilt, dass sich niemals mit Sicherheit sagen lässt, ob eine Aussage falsifizierbar ist. Denn dies ist abhängig vom jeweiligen Stand des Wissens und den jeweilig zur Verfügung stehenden Testverfahren. 

Da man nicht von der Vergangenheit auf die Zukunft schließen darf, steht zudem jedes Ideensystem, das aus Erfahrung als offenkundig absurd und krank angesehen wird, bis zu seiner Falsifizierung gleichberechtigt neben ernstzunehmenden Kandidaten. Das allein mag noch zu verschmerzen sein. „Kein Gedanke ist so alt und absurd, dass er nicht unser Wissen verbessern könnte“[9], meint Paul Feyerabend. Doch David Hume hat mit der Induktion auch gleich die Kausalität zum nicht weiter begründbaren Erfahrungswert degradiert[10] und als bloße Regularität aufgefasst.[11] Der Satz „Kein Säugetier legt Eier“ wird durch die Existenz des Schnabeltiers falsifiziert, der Satz „In der Regel legen Säugetiere keine Eier“ hingegen nicht. 

Von statischen Naturgesetzen mit uneingeschränkter Geltung ist in vielen Wissenschaftsdisziplinen nicht mehr die Rede, zum Beispiel in der Evolutionsbiologie oder der modernen Physik. Wissenschaftliche Aussagen werden heute oft als Wahrscheinlichkeiten formuliert. Wahrscheinlichkeitssätze sind jedoch nicht falsifizierbar. Daraus folgt zwingend, dass zum Beispiel alle probabilistischen Theorien der modernen Physik im Kritischen Rationalismus als Pseudowissenschaft zu gelten haben. Das gefeierte Prinzip der Falsifikation düpiert ausgerechnet diejenigen, die damit besonders ausgezeichnet werden wollen. Wenn es die Besten erschlägt und die Schlimmsten leben lässt – wozu taugt es dann überhaupt?

Mit leeren Händen

Popper wusste selbstverständlich um die Probleme seines Ansatzes, konnte sie aber insgesamt nicht befriedigend lösen.[12] Einwände gegen den Falsifikationismus werden noch heute gerne damit pariert, dass die Kritik lediglich einen „naiven Falsifikationismus“ treffe, wie ich ihn oben dargestellt habe. Der wirkliche Falsifikationismus sei viel differenzierter. Auch ein differenzierter Falsifikationismus müsste aber den erklärten Hauptzweck erfüllen, auf nicht allzu komplexe Weise zwischen wissenschaftlichen und metaphysischen Theorien unterscheiden zu können. Letzteres wiederum würde nur funktionieren, wenn der naive Falsifikationismus widerspruchsfrei begründbar wäre. Er ist aber offenkundig absurd. 

Mit höherem Differenzierungsgrad mag er weniger widersprüchlich werden, wird aber im selben Maß weniger fasslich. Auch ein „raffinierter“ Falsifikationismus leidet unter gravierenden Konstruktionsfehlern, selbst wenn nicht Theorien oder Hypothesen, sondern ganze Forschungsprogramme sein Gegenstand sind. Feyerabend riet unumwunden dazu, den Kritischen Rationalismus möglichst schnell zu vergessen und am besten gleich die gesamte Wissenschaftstheorie als „Kinderei“ zu verwerfen.[13]

In den 1960er Jahren stand man also wieder mit der ebenso unbegründbaren wie unverzichtbaren Induktion da, welche zwar hervorragend funktioniert, aber rätselhaft bleibt. Sie zu verwenden ist zwar in praktischer Hinsicht äußerst rational. Doch mit dieser Rationalität hat die Wissenschaft nun einmal der Alltagspraxis oder „Pseudowissenschaft“ nichts Prinzipielles voraus. Schon der antike Skeptizismus wusste, dass Letztbegründungen auf deduktivem Wege in die Ausweglosigkeit führen. Schließlich muss man irgend etwas unhinterfragt lassen, um von dort aus weiterzukommen. Doch das hilft der Wissenschaft nicht aus der Misere, weil es nun einmal auf alle zutrifft. Wissenschaft will aber etwas Besonderes sein.

Da die Falsifikation aus genannten und weiteren Gründen nicht zum alleinigen Abgrenzungskriterium taugte, stand plötzlich die Wissenschaft selbst unter Pseudowissenschaftsverdacht. Thomas S. Kuhn[14]und Paul Feyerabend pulverisierten den Kritischen Rationalismus mitsamt Falsifikationismus, Imre Lakatos [15] konnte letzteren wohl auch nicht retten.[16] Von diesem Schock scheinen sich viele Wissenschaftler und gebildete Laien bis heute nicht erholt zu haben. 

Laborgesetze der Straße

Anfang der 1980er Jahre zeigte Karin Knorr-Cetina aus der Innenperspektive eines biochemischen Labors, wie praktische Wissenschaft wirklich zu „funktionieren“ scheint. Ihre Studie mit dem Titel „Die Fabrikation von Erkenntnis“[17] legte offen, dass in der experimentellen Praxis alles andere gemacht wird, als mit strengen Methoden Hypothesen zu falsifizieren. Vielmehr wird unter äußerem Druck improvisiert. Es geht um Geld, Erwartungen, Macht, Hierarchie, Anerkennung, Status, Karriere – wie bei anderen Menschen auch (nur schlimmer, möchte man ergänzen). Die veröffentlichten „Paper“ sind Artefakte besonderer Art, die weniger mit „objektiver Realität“ oder „Annäherung an die Wahrheit“ als mit der internen Realität einer gänzlich opportunistischen experimentellen Praxis zu tun hat, die Methoden so zu wählen, dass sie ein bestimmtes Ergebnis erzeugen. In den Veröffentlichungen ist davon allerdings nichts zu sehen. Die Autoren solcher Paper stellen die Sache lediglich ex post so dar, als seien sie einer strengen Methode gefolgt und hätten unbarmherzig die eigenen Hypothesen getestet. Genau wie die Rationalität des wissenschaftlichen Fortschritts laut Kuhn erst ex post durch voreingenommene Geschichtsschreibung hergestellt wird.

Man mag dies als unzulässige Verallgemeinerung ansehen. Doch Knorr-Cetina hat ihre Theorie inzwischen auf breiterer Grundlage ausgearbeitet (siehe Fußnote 17). Ihre Resultate werden zudem durch umfassendere Untersuchungen und bekannt gewordene Betrugsfälle gestützt.[18] Manifester Betrug in signifikantem Ausmaß ist nur das auffälligste Indiz, dass etwas grundsätzlich schief läuft. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine wissenschafliche Studie falsche Resultate liefert, ist laut John A. Ioannidis größer als die Wahrscheinlichkeit des Gegenteils. In seinem Buch „Science Fictions“ zeigt Stuart Richie[19], dass die Replikation von Experimenten in der wissenschaftlichen Praxis so gut wie keine Rolle spielt. Das liegt unter anderem daran, dass man als Forscher für Wiederholungen von Experimenten kaum Gelder bekommt und zudem keinen Ruhm ernten kann. Wenn aber Experimente wiederholt werden, können die Resultate sehr oft nicht bestätigt werden.[20]

Die Wiederholung von Experimenten ist zusammen mit dem Peer-Rewiev als Mechanismus der Selbstkorrektur das offizielle Herzstück der empirischen Wissenschaft. Darauf sind Wissenschaftler stolz; damit begründen sie den einzigartigen, überlegenen Charakter der Wissenschaft. Genau diese Mechanismen greifen jedoch laut Richie nicht, haben sogar einen negativen Effekt. Das ganze System sei „badly broken“.[21] Dies gilt – wie auch Richie betont[22] – besonders für Medizin und Pharmakologie. Beim Thema Covid spielen diese eine herausragende Rolle.[23] Die Laborpandemie Corona wirkt im Ganzen wie eine hypertrophe Bestätigung von Knorr-Cetinas Thesen. Nachgezeichnet wird dies unter anderem hier und hier

Poppers Hauptwerk heißt „Logik der Forschung“. Dem Anspruch nach befasst es sich nicht mit den Aspekten der Entstehung und Verwertung von Theorien. Man darf es also nicht als Beschreibung der Forschungspraxis missverstehen. Wie aber seit Kuhn klar ist, können die Bereiche Entstehung, Begründung, Verwertung nicht sauber voneinander getrennt werden. Die Begründung von Theorien wird durch Forschungspraxis ermöglicht. Diese aber folgt, wie gezeigt, im Inneren und strukturell bedingt ganz anderen Gesetzen, als denjenigen, die von Popper postuliert werden. Dies affiziert auch den Begründungszusammenhang. Denn Hypothesen wie Theorien werden laut Kritischem Rationalismus durch Beobachtungsdaten falsifiziert. Wenn diese aber aus strukturellen Gründen ganz anders zustande kommen, als Popper meint, erfüllen sie nicht die ihnen zugedachte Funktion, und der Falsifikationismus hängt in der Luft. Dort erfüllt er als luftiges Ideal eher den Zweck, das gänzlich unfalsifikatorische Treiben der Wissenschaftler mit einem Heiligenschein zu versehen.

Feyerabend für Popper

Der Kritische Rationalismus war der letzte über die Wissenschaftstheorie hinaus wirksame Versuch, den rationalen Sonderstatus der Wissenschaft mithilfe eines einzigen, prima facie leicht verständlichen Prinzips zu begründen. Aus meiner Sicht hat er die Selbsttäuschung der Wissenschaft auf ein Höchstniveau getrieben, indem er vorgab, dass Wissenschaft als einzige Erkenntnisweise vom Kohlendioxid des Zweifels statt vom Sauerstoff der Überzeugung lebt. Das ergab immerhin ein klares Freund-Feind-Schema. Der Distinktionsvorteil war immens, der Fall entsprechend tief. Kein Wunder, dass viele praktizierende Wissenschaftler und gebildete Laien die einschlägigen Begründungsprobleme nicht kennen oder nicht wahrhaben wollen. Man schimpft lieber über den Konstruktivismus oder den Relativismus.

Poppers gesellschaftspolitische Vorstellungen sind womöglich aktueller als seine Wissenschaftstheorie, wenngleich sie unter letzterer stark leiden. Er betrachtet alles als Feind, was sich seinem theoretischen Schema nicht fügt. Ich würde also eher zur Lektüre von John Stuart Mills „Über die Freiheit“[24] und Jacob L. Talmons dreibändiger „Geschichte der totalitären Demokratie“[25] raten. Der aktuellste Klassiker unter den Wissenschaftsphilosophen ist für mich Paul Feyerabend.[26] Wissenschaft lebt für ihn nicht vom Zweifel, sondern von ihrer eigenen Propaganda. Sie ist „laut, frech, teuer und fällt auf“.[27] Knorr-Cetinas Studien sowie die zahlreichen Analysen zur Manipulation in der Wissenschaftspraxis bestätigen Feyerabends Befund, dass Wissenschaftler Methoden opportunistisch als Daumenregeln benutzen, solange sie ihre vorgefertigte Meinung bestätigen. 

Geht man von diesen Gedanken aus, fällt man nicht immer wieder aus allen Wolken, wenn man feststellt, dass die wissenschaftliche Praxis mit dem Ideal nichts zu tun hat. Da die Forderungen des Kritischen Rationalismus ohnehin unerfüllbar und widersprüchlich sind, ähneln sie in gewisser Weise unerfüllbaren religiösen Geboten. Solche Gebote führen dazu, dass in ihrem Namen alle Gebote missachtet werden, auch die erfüllbaren. Widersprüchliche Imperative sind Machtinstrumente, die zu Heuchelei, Selbstbetrug und Betrug führen – exakt zu dem, was in der Wissenschaft insgesamt wohl genauso häufig anzutreffen ist wie zum Beispiel im Christentum.

Ändert man einmal die Perspektive, versteht man vielleicht besser, was gerade an globaler Verheerung im Namen des Seuchenschutzes geschieht. Wer sich immer nur über den vermeintlichen Missbrauch der reinen Wissenschaft beklagt, verfehlt die Pointe, dass diese Reinheit bloß ein säkulares Pendant zum christlichen Virginitätsdogma sein und Wissenschaft ihrerseits Missbrauch an der Gesellschaft verüben könnte.


[1] Zimmermanns Artikel sind allesamt sehr empfehlenswert. Hier und hier und hier können seine aktuellen Beiträge gelesen werden.

[2] Leider belässt es Zimmermann nicht dabei: „Wir können also Karl Lauterbachs Aussage, dass die vierte ‚Impfung‘ Leben rettet, als Hypothese annehmen und versuchen, diese Hypothese zu überprüfen. Dabei ist zu beachten, dass eine Hypothese bereits durch ein Gegenbeispiel als widerlegt gilt – ein einziger ehrlicher Kreter widerlegt die Hypothese, dass alle Kreter lügen.“ Durch ein einziges Gegenbeispiel können nur Allaussagen widerlegt werden, nicht Hypothesen generell. Lauterbachs Aussage ist keine Allaussage, kann also auf die beschriebene Weise nicht widerlegt werden. Aus Sicht des Kritischen Rationalismus wäre an der Aussage zu kritisieren, dass sie nicht falsifizierbar ist. Zimmermann falsifiziert sie dann logischerweise auch gar nicht, glaubt aber, es getan zu haben. Einfaches Nachdenken hätte indes genügt, den Fauxpas zu vermeiden. Selbstverständlich kann jedem einmal ein Fehler, eine nachlässige Formulierung unterlaufen. Aber diese lässt meiner Ansicht nach auf grundlegenden Irrtum schließen.

[3] Vgl. Karl Popper, Logik der Forschung, Tübingen 2001.

[4] Diese überzeichnete Darstellung habe ich deshalb gewählt, weil offenbar vielen, die sich noch immer auf Popper berufen, nicht recht klar zu sein scheint, wie wenig plausibel dessen Vorstellung von der Logik der Forschung ist.

[5] Vgl. David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Stuttgart 1982, S. 41–58.

[6] Eine Vorstellung davon, was dort grundsätzlich „schief läuft“, vermittelt der Aufsatz The Demise of the Demarcation Problem von Larry Laudan, besonders S. 121 f. 

[7] Norbert Hoerster, Was können wir wissen?, München 2010, S. 69.

[8] Vgl. meinen Blogeintrag Wahre Wissenschaft?, Kap. „Unterbestimmtheit“. Die Triftigkeit der Unterbestimmtheitsthese erweist sich derzeit täglich während der „Corona-Krise“: Mit dem Verweis auf Beobachtungsdaten wird hier buchstäblich alles und nichts bewiesen bzw. abgewiesen, selbst dann, wenn Daten unter formal hohen Standards erhoben worden sind. Der Fehler der Maßnahmenkritiker besteht darin zu behaupten, dieses Verhalten sei als solches „unwissenschaftlich“ oder gar irrational. Irrational und „unwissenschaftlich“ wird es nur, wenn selektiv zu eigenen Gunsten auf diese Weise verfahren wird, sofern man sich zuvor explizit oder implizit auf einheitliche Standards geeinigt hat.

[9] Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1991, S. 55. 

[10] Vgl. Hume, Versuch über den menschlichen Verstand, S. 44.

[11] Vgl. John Leslie Mackie, The Cement of the Universe, London 1974, S. 59–87.

[12] Vgl. Paul Arthur Schilpp (Hg.), The Philosophy of Karl Popper, La Salle, Illinois 1974.

[13] Vgl. dazu Peter Janich, Kleine Philosophie der Naturwissenschaften, München 1997, S. 193ff.

[14] Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 13. Aufl. Frankfurt am Main 1996. Vgl. dazu Paul Hoyningen-Huene, Die Wissenschaftstheorie Thomas S. Kuhns, Braunschweig 1989.

[15] Vgl. Imre Lakatos, Philosophische Schriften, Wiesbaden 1982. 

[16] Selbstverständlich gibt es auch heute noch Verteidiger des Kritischen Rationalismus. Eine kurze und gehaltvolle Verteidigung findet sich z.B. bei Gunnar Andersson, „Karl Popper und seine Kritiker“, in: Giuseppe Franco (Hg.), Handbuch Karl Popper, Wiesbaden 2019, S. 717–731. 

[17] Vgl. Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2016. Vgl. Dies.: Wissenskulturen, Frankfurt am Main 2002.

[18] Als Beispiel für jüngere Betrungsfälle in Deutschland vgl. Mario Finetti/Armin Himmelrath, Der Sündenfall, Berlin 2012. In diesem Buch werden auch Faktoren genannt, die den Wissenschaftsbetrug begünstigen. Es sind dieselben, die auch Knorr-Cetina nennt.

[19] Vgl. Stuart Richie, Science Fictions, New York 2020.

[20] Vgl. Ebd., Kap. 2. John Ioannidis hatte dies schon bei klinischen Studien festgestellt.

[21] Ebd., S. 5.

[22] Vgl. Ebd., S. 6.

[23] Vgl. z.B. Jon Jueirdini/Leemon B. McHenry, The Illusion of Evidence-Based Medicine, Mile End 2020.

[24] Vgl. John Stuart Mill, Über die Freiheit, Stuttgart 2010.

[25] Vgl. Jacob L. Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie, 3. Bände, Göttingen 2013.

[26] Feyerabend wird sich im Grabe herumdrehen, als „Klassiker der Wissenschaftsphilosophie“ bezeichnet zu werden. Mir fällt aber in diesem Zusammenhang keine bessere Bezeichnung ein.

[27] Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 19.

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