Selbstdenken verboten

Ein Jan Schellenbach schreibt auf Twitter:

Nein. Findet Euch einfach mal damit ab, dass Laien beim Selbstnachdenken einen nicht einholbaren Nachteil gegenüber professionellen Virologen und Epidemiologen haben. Lasst das Selbstnachdenken und hört den Profis zu.

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Schellenbach ist Ökonomieprofessor, kein professioneller Virologe oder Epidemiologe. Er hat diesen Profis gegenüber also einen nicht einholbaren Nachteil beim Selbstnachdenken. Und weil er diesbezüglich so benachteiligt ist, meint er, anderen sagen zu können, was sie tun oder lassen sollen. Doch wieso sollte mich interessieren, was jemand meint, der mit den „Laien“ zugleich sich selbst für inkompetent erklärt?

Als deutscher Professor weiß er natürlich nicht, dass es Menschen gibt, die zuhören und gleichzeitig denken können; die zur Kenntnis nehmen, was verschiedene Experten sagen und danach abwägen. In der Regel sind Fachleute unterschiedlicher Meinung. Und selbst wenn sie im Grundsätzlichen einig sind, herrschen gewiss Unterschiede im Detail. Pro forma ist ein Lauterbach epidemiologisch oder virologisch nicht kompetenter als ein Wodarg. Wem soll ich also zuhören? Wenn ich beiden zuhöre, weil sie „Profis“ sind, muss ich mich hinterher entscheiden, wessen Vortrag mich mehr überzeugt hat. Aber nach welchen Kriterien? Selbstdenken gilt ja nicht. Ich darf also das Gehörte nicht auf logische Stimmigkeit prüfen. Warum soll ich den Profis überhaupt zuhören, wenn ich gar nicht beurteilen kann oder darf, was sie von sich geben?

Die Antwort liegt auf der Hand: Ich soll nicht denken, sondern tun, was man mir sagt. Doch nicht ich bin gegenüber Schellenbach und seinen Lieblingsprofis in der Rechenschaftspflicht, sondern diese sind mir gegenüber zur Rechtfertigung verpflichtet. Als Bürger sind sie nämlich nichts Höheres oder Besseres als ich. Sie haben mir nichts voraus und mir schon gar nichts vorzuschreiben. Wenn sie etwas von mir wollen, müssen sie mich überzeugen. Und überzeugen kann man mich nur, wenn ich selbst denken darf. Etwas von uneinholbaren Nachteilen faseln kann schließlich jeder Trottel. Soll das etwa ein Argument sein?

Personen, die von ihren Verstandeswerkzeugen versierten Gebrauch machen, nennt man scharfsinnig oder klug. Sie verfügen über große Urteilskraft. Letztere ist purer Vielwisserei oder Fachidiotie weit überlegen. Deshalb kommt es häufig vor, dass Profis Laien gegenüber den uneinholbaren Nachteil haben, trotz akkumulierten Fachwissens nicht eigenständig denken zu können, zu wollen oder zu dürfen. Der Anteil an Kretins ist unter Virologen und Epidemiologen gewiss nicht niedriger als anderswo. Ich finde nicht, dass diese Zunft eine gute Figur macht, seitdem sie im Rampenlicht steht. SIR-Modell tauglich oder nicht? Herdenimmunität ja oder nein? Impfungen wirksam oder nicht? Und wenn ja, wie viele? Es herrscht allgemein das große Rhabarbern. Fachleute können überdies korrupt sein und sind oft weisungsgebunden.

Wenn man also seinen Verstand benutzt, kann man sich auch fragen, ob die betreffenden Virologen und Epidemiologen Gutes im Schilde führen? Sind sie an meiner Gesundheit, meinem Wohlergehen, meiner Bildung und charakterlichen Vervollkommnung interessiert? Oder nutzen sie ihre Position nur dazu, die Leute über den Löffel zu balbieren? Wie haben sich denn solche Profis in der Vergangenheit verhalten? Robert Koch zum Beispiel, oder das Personal des nach ihm benannten Instituts. Koch hat tödliche Menschenversuche in afrikanischen Konzentrationslagern durchgeführt. Seinen Opfern hat er vielleicht mitgeteilt, dass sie ihm gegenüber einen uneinholbaren Nachteil beim Selbstnachdenken hätten und leider ins Gras beißen müssten, denn schließlich seien sie bloße Laien, noch dazu mit schwarzer Hautfarbe. Das Robert Koch-Institut war an den Verbrechen des Nationalsozialismus aktiv beteiligt, hat alles mitgemacht und mitgetragen, was von dort kam. Mengele war gewiss ein Profi. Und sein Lehrer Otmar von Verschuer auch. Verschuer – führender Rassehygieniker des Nationalsozialismus und Eugeniker – konnte nach dem Krieg seine Karriere ungehindert fortsetzen und zahlreiche Humangenetiker ausbilden. In seinem Geist sollen die „Laien“ heute den ihren aufgeben und ihre Gesundheit, ihr Leben aufs Spiel setzen.

Und was haben die Profis intellektuell zu bieten? Sie präsentieren die offenkundige Wirkungslosigkeit der von ihnen empfohlenen Maßnahmen als Beweis für deren Wirkung und klugscheißen etwas vom „Präventionsparadoxon“. Auf so etwas falle ich aber nicht herein, denn ich kann ihnen mühelos einen logischen Zirkel nachweisen. Das nützt mir jedoch nichts, weil die Schellenbachs dieser Welt den Zirkel einfach eine Runde weiterdrehen, indem sie erwidern, dass ich nun mal ein Laie sei, der sich mit seinem Selbstnachdenken uneinholbar im Hintertreffen befinde. Usw. Usf.

Schellenbachs Gestus ist nicht zufällig feudal, denn „die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung“, wie Immanuel Kant sagt. Aufklärung setzt also eigenständiges Denken nicht bloß voraus, sondern besteht in selbigem. Die Maxime, das Selbstdenken zu unterlassen, wenn andere es befehlen, oder gar nicht erst damit anzufangen, ist daher gegenaufklärerisch und neofeudal. Der uneinholbare Nachteil des eigenständigen Denkens besteht nicht darin, ominösen Profis geistig unterlegen zu sein. Der Nachteil ist, dass Autonomie in einer weitgehend heteronom strukturierten Welt keinen Vorteil bringt. Damit habe ich mich allerdings schon lange abgefunden.