Speziesismus

Unendliches Leid der Zungen

Der Ausdruck stammt vom Psychologen Richard Ryder, welchem laut eigenem Bericht in der Badewanne plötzlich die Erleuchtung kam, alle Welt mit einem neuen Zungenbrecher zu beglücken, obwohl diesbezünglich bereits Fischers Fritze und Co. hervorragende Dienste leisten. „Speziesismus“ ist also ein Geschenk von jemandem, der zu heiß gebadet hat, für Leute, die zu heiß gebadet sind

Inhaltlich handelt es sich dabei um einen schlichten Kategorienfehler, den jeder erkennen kann, der seinerzeit in der Sesamstaße „Eins von den Dingen ist nicht wie die anderen“ geschaut hat. „Speziesismus“ ist onomatopoetisch Begriffen wie Rassismus und Sexismus nachgebildet. Er soll so etwas bedeuten wie: Bevorzugung des Menschen nur aufgrund seiner Spezieszugehörigkeit. Das allerdings ist ein Strohmann. Die Spezieszugehörigkeit fungiert nämlich als Kriterium, nicht als Grund. Der Grund, warum Menschen moralischen Status und Menschenrechte haben, liegt in bestimmten Eigenschaften, die nur Menschen besitzen (dazu gleich mehr).

Lassen wir also den Strohmann weg, lautet das Argument der „Antispeziesisten“ folgendermaßen: So, wie (z.B.) Farbige und Frauen diskriminiert wurden und werden, würden auch bestimmte Tierarten diskriminiert – und zwar mit Hilfe eines Kriteriums, welches nur dem Zweck diene, ihnen moralischen oder gar rechtlichen Status vorzuenthalten. Dieses Kriterium ist die Vernunft. Für schlichte Gemüter ist das natürlich einleuchtend. Mit der Vernunft ist es auch bei ihnen nicht weit her; außerdem klingt „Speziesismus“ ähnlich wie „Sexismus“ und „Rassismus“, allerdings auch wie „Feminismus“. Die Probleme, das Wort korrekt auszusprechen, beanspruchen bereits die gesamte geistige Kapazität derjenigen, die „Speziesismus“ für ein Zauberwort halten, das alle Gegner in Acht und Bann schlägt. Sie sind so stolz darauf, dieses Wort überhaupt zu kennen, dass sie gar nicht verstehen, wie jemand davon nicht beeindruckt sein kann. 

Finde den Fehler

Rassismus und Sexismus sind als Begriffe auf Menschenwürde und die damit begründeten Menschenrechte bezogen. Worin besteht die Menschenwürde? Sie besteht darin, dass Menschen in der Lage sind, über ihre Belange selbst zu bestimmen. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, Wünsche zweiter Ordnung zu haben, also höherstufige Wünsche auf Wünsche niedrigerer Stufe beziehen und letztere damit neutralisieren zu können. 

Wichtig: Kein Tierphilosoph, kein Tierbefreier, kein Tierrechtler, kein Verhaltensbiologe behauptet, dass diese Fähigkeit bei Tieren nachgewiesen ist. Keiner! Das verwundert auch wenig, denn hätten Tiere diese Fähigkeit, könnten sie über ihre Belange selbst bestimmen und wären damit Urheber ihres Tuns. Dieses müsste ihnen dann nolens volens als Verdienst oder Verschulden zugeschrieben werden. Sie wären damit auch im juristischen Sinne voll verantwortlich.

Das Argument gegen Rassismus und Sexismus ist, dass sowohl (z.B.) Farbige als auch Frauen nachweislich oben genannte Fähigkeit durchschnittlich in gleichem Maße haben wie weiße Männer. Sie haben die gleiche Würde. Ihnen müssen daher Menschenrechte in gleichem Maße gewährt werden, wie sie auch weißen Männern gewährt werden. Diskriminierte Menschen werden in der Regel von außen daran gehindert, über ihre Belange selbst zu bestimmen. Andere Entitäten – Tiere, Pflanzen, Steine, Artefakte – werden von innen daran gehindert, da sie konstitutionell dazu gar nicht in der Lage sind. Ihnen wird also durch „Ungleichbehandlung“ nichts genommen. Im Gegenteil: Ungleiches ungleich zu behandeln, ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Nur Menschen können diskriminiert werden. Bei anderen Entitäten hat der Begriff keinen Sinn. 

Schwamm drüber?

Kommen wir zurück auf die Sesamstraße: Eins von den Dingen ist nicht wie die andern. Rassismus und Sexismus gehören, da sie auf benannte Fähigkeit bezogen sind, in ein und dieselbe Kategorie. „Speziesismus“ hingegen bezieht sich auf andere Fähigkeiten bzw. Eigenschaften, bei Ryder explizit auf die Leidfähigkeit. Der Begriff wird also uneigentlich, bloß in Analogie verwendet. Gleichwohl treten diejenigen, welche ihn verwenden, so auf, als wäre tatsächlich eine logische Äquivalenz vorhanden.

So etwas nennt man einen „performativen Selbstwiderspruch“. Der „Sprechakt“, also die sprachliche Performance, passt nicht zum Inhalt. Erst recht passen alle manifesten Aktivitäten von Tierbefreiern, Tierrechtlern und ähnlichen nicht zum Inhalt dessen, womit sie diese Aktionen begründen. Sie passen nur in dem Sinne dazu, dass umso lauter geschrien, umso brutaler gehandelt wird, je schlechter die rationale Begründung ausfällt.

Nun ist Leidfähigkeit eine weit schwammigere Bestimmung als die Fähigkeit zu Wünschen zweiter Ordnung. Letztere ist definitorisch klar und empirisch evident – also so offensichtlich, dass sie keiner expliziten Begründung bedarf. Alle unterstellen diese Fähigkeit im täglichen Leben, auch Tierrechter und Co. Andernfalls hätte es für sie keinen Sinn, die „bösen Fleischesser“ bekehren zu wollen. Diese könnten ihren Wunsch niederer Ordnung nach Fleisch gar nicht durch den Wunsch höherer Ordnung neutralisieren, den Fleischkonsum zu unterlassen. Aus rationaler Perspektive stellt sich also die Frage, warum man eine derart klare und trennscharfe Bestimmung durch eine unklare und unscharfe ersetzen sollte.  

Alle töten?

Diese Frage ist umso dringlicher angesichts des Umstands, dass die „Antispeziesisten“ mit ihren unklaren Bestimmungen in der Regel umfassende Tötungsverbote begründen wollen. Es ist aber gar nicht ohne Widerspruch möglich, aus der unterstellten Leidfähigkeit ein generelles Tötungsverbot abzuleiten. Schlimmer noch. Ist Leidvermeidung oberstes oder gar einziges Prinzip, kann der Konsequenz umfassender Tötungsgebote nur schwer ausgewichen werden (negativer Utilitarismus). Um dieser Konsequenz auszuweichen, sind umständliche Rechnungen über Nettoleid oder Durchschnittsleid vonnöten, die niemals so verbindlich sein können wie die auch von Tierrechtlern de facto anerkannte Menschenwürde im oben genannten Sinn.

Der Tatsache, dass Tiere leiden können, wird bereits im traditionellen Tierschutz Rechnung getragen. Der Tierschutz ist Ausdruck von Milde und Gnade, nicht von streng rationaler Ethik. Streng rational kann immer nur der moralische Status von Menschen begründet werden, einschließlich des Tötungsverbots bzw. des Lebensrechts. Wer es mit anderen bekannten Entitäten versucht, wird immer scheitern. Die geistigen Verrenkungen der „Antispeziesisten“ sind arguemtativ aussichtlos und – nennen wir das Kind beim Namen – unglaublich dumm.

Splitter und Balken – das geht ins Auge!

Nehmen wir nur für einen Moment an, der Grund, Menschen die gleichnamigen Rechte sowie moralischen Status zuzugestehen, sei tatsächlich willkürlich und diene nur dem Zweck, alle anderen Entitäten draußen zu halten. Inwiefern wären dann die „antispeziesistischen“ Versuche rational überlegen? Denn das Gleiche kann man von jedem Versuch behaupten, der nicht allem und jedem, was in der Welt existiert, moralischen Status sowie Lebens- und Existenzrecht zuweist. Bildet man aus der Gesamtheit eine Teilmenge, dann bedeutet dies stets, den Rest auszuschließen.

Die Versuche der „Antispeziesisten“, sinnvolle Teilmengen zu bilden, sind schon aus logischen Gründen kläglich. Man kann all ihr Tun ebenfalls unter den Begriff „Speziesismus“ subsumieren – und zwar mit weit mehr Recht, als das Tun der vermeintlichen Speziesisten. Werden nur „leidfähige“ Wesen berücksichtigt, lässt sich dies ohne Weiteres als Diskriminierung anderer Entitäten darstellen. Schließlich wird ein „Feature“ herausgegriffen, bloß um die vermeintlich zum Leid Unfähigen draußen zu halten. Warum? Wer am lautesten Aua schreit, kommt in den Club?

Ulkigerweise hat Richard Ryder selbst das schöne Wort „Painism“ erfunden – zu Deutsch wohl „Schmerzismus“. Damit ist aber nicht etwa die Diskriminierung aller schmerzunfähigen Entitäten gemeint – zum Beispiel von Nacktmullen oder Menschen mit angeborener Schmerzlosigkeit. Ryder benutzt das Wort, um seine ethische Theorie zu begründen, wonach es der Zweck von Moral sei, ganz allgemein den Schmerz möglichst zu beseitigen, weil Schmerz laut Ryder das Übel schlechthin sei. 

Darüber mag man streiten bis zum Sankt-Nimmerleinstag. Und das ist als solches bereits ein Problem. Denn die traditionelle Ethik, gegen welche die „Antispeziesisten“ opponieren, arbeitet ja schon lange mit weitgehend unstrittigen Tatsachen. Nichts ist logisch so eng mit Moral verknüpft wie die Fähigkeit zu derselben. Diese Fähigkeit haben nach bisheriger Erkenntnis nur Menschen.

Lob und Tadel

Um auch hier für Klarheit zu sorgen: Moral bedeutet, nicht nur sichtbares Verhalten, sondern auch Absichten und Überzeugungen nach abstrakten Regeln zu bewerten. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass dies irgendein Tier könnte. Deshalb behauptet es auch kein Verhaltensbiologe. Eine kluge Tierrechtlerin wie Christine Kosgaard sagt klipp und klar, dass nur Menschen zur normativen Selbststeuerung fähig sind.

Das gestehen die „Antispeziesisten“ – siehe oben – selbst ohne Unterlass ein, da sie nicht auf die Idee kommen, ihre Lieblingstiere zu verklagen, wenn sie „Böses“ tun und Kapitalverbrechen wie Mord, Totschlag, Raub begehen. Diese Begriffe sind in Bezug auf Tiere genauso sinnlos wie die positiven Zuschreibungen, mit denen ethische Vegetarier nicht geizen. Der Schatten des Lobes ist aber der Tadel. Wo man nicht tadeln kann, kann man auch nicht loben.

Lange bevor die „Antispeziesisten“ mit ihrem Unfug anfingen, gab es bereits einen klaren Grund und ein klares Kriterium für moralischen Status und Menschenrechte. Grund ist die altbekannte Vernunft in Gestalt von Autonomie und Moralfähigkeit. Kriterium ist die Zugehörigkeit zu der einzigen Spezies, die dazu in der Lage ist: Homo sapiens.

Das von „Antispeziesisten“ gern geäußerte Argument der „Grenzfälle“ (marginal cases) wird hier nicht weiter besprochen. Nur so viel: Es trifft selbstverständlich auch auf alle denkbaren Entitäten zu, die außer Menschen moralischen Status bekommen sollen. Immer gibt es Exemplare, die Eigenschaft x oder y im Moment oder dauerhaft nicht haben. Menschen fehlt aber im Falle des Falles die Fähigkeit zur normativen Selbststeuerung nicht in identischer Weise, wie sie einem Tier oder einem Stein fehlt. Dazu mehr in meinem Buch.

Fazit

Wie immer und überall fallen Moralvegetarier in die Grube, die sie anderen graben. Ihr Tun besteht ausschließlich darin, ihre eigenen logischen und moralischen Probleme auf andere zu projizieren, anstatt sich einzugestehen, dass sie rational und moralisch auf verlorenem Posten stehen. 

Rechtfertige dich! – oder auch nich

Moralveganer sind oft der Ansicht, dass andere sich vor ihnen dafür rechtfertigen müssen, nicht „vegan zu leben“. Doch wieso sollte sich jemand, der die veganen Normen gar nicht anerkennt, dafür rechtfertigen, sie nicht einzuhalten?

Rechtfertigungsbedürftig ist vielmehr, warum Veganer die von ihnen postulierten Gebote ohne Unterlass brechen. Wenn sich jemand moralisch dazu verpflichtet, nach Möglichkeit alles zu unterlassen, was auf „Tierausbeutung“ und –tötung beruht, stellt sich die Frage, warum diese Person dennoch jeden Tag die Annehmlichkeiten der modernen technischen Zivilisation in Anspruch nimmt, die angeblich samt und sonders auf „Tierausbeutung“ und –tötung beruhen. Zum Beispiel die Nutzung des Internets, was ohne elektrische Geräte nicht möglich ist, die wiederum allesamt Kupfer enthalten, der mit Knochenleim inhibiert wird. 

Wie gesagt: Das moralische Problem haben nur Personen, die sich auf oben genanntes Gebot verpflichtet haben. Andere – die „bösen“ Fleischesser zum Beispiel – haben dieses Problem jedoch nicht. Da sich die Veganer nicht auf allgemein anerkannte Normen stützen können, um genau diese Normen gegen die „Normalmenschen“ in zu Stellung bringen, bleibt das Ganze allein ihre Sache. Allgemein gilt schließlich seit vielen Jahrtausenden, dass die Nutzung und Tötung von Tieren moralisch legitim sei.

An verbreitete „Intuitionen“ der Bürger können Veganer nicht anknüpfen. Das müssen sie auch nicht. Aber dann müssten sie einen erhöhten Begründungsaufwand betreiben, um andere überzeugen zu können. Davon kann aber keine Rede sein. Sie strampeln und schreien nur. Ihre „Argumentationen“ sind durchweg zirkulär, setzen immer schon voraus, was zu beweisen wäre – zum Beispiel die Gleichheit von Menschen und (bestimmten) Tieren in ethischer Hinsicht.

Entweder, unsere Gesellschaft ist – wie die meisten Moralveganer behaupten – von Tierausbeutung, Tierleid und „unnötigem Tiertod“ durchdrungen. Dann laden sich die Moralveganer selbst eine hohe Bürde auf, wenn sie ihre moralischen Prinzipien ernst nehmen. Dann müssten sie weitgehend ohne zivilisatorische Segnungen auskommen und ein zurückgezogenes Leben führen. Denn je mehr sie an einer von Tierausbeutung durchdrungenen Gesellschaft partizipieren, desto mehr Tierleid und –tod verursachen sie.

Da es ohne Weiteres möglich ist, auf niedrigem zivilisatorischem Niveau zu leben, müssten sie sich selbst immerzu die Frage stellen, warum sie es dann partout nicht tun. Stattdessen schlagen sie andere mit der Behauptung tot, man könne „ganz leicht“ auf Tierprodukte verzichten. Wenn es so leicht ist – warum tun es die Veganer dann nicht?

Ist nun die Gesellschaft nicht von Tierausbeutung usf. durchdrungen, dann erscheint das gesellschaftliche Problem nicht annähernd so groß, wie die Moralveganer behaupten. Damit aber hätten weder ihr Aktivismus noch ihre moralischen Anklagen noch ihre Gleichsetzungen von menschenverursachtem Tierleid mit Unrechtssystemen eine Grundlage. Sie müssten sich daher fragen, ob ihr Handeln verhältnismäßig ist. Vegane Gebote sind entweder zu unverbindlich („nach Möglichkeit …“) oder zu streng und damit unerfüllbar. Eine so strukturierte „Ethik“ taugt nicht zum praktischen Leben unter Normalbedingungen, sondern kommt erst im permanenten Ausnahmezustand des auf Dauer gestellten Fanatismus zu sich selbst.

Das alles würde bei einigermaßen rationalen Menschen zur Folge haben, die eigenen Normen zu überdenken und zu verwerfen. Moralveganer tun das Gegenteil und pflegen ihre Paranoia, indem sie ihre selbstgeschaffenen moralischen Dilemmata auf alle anderen projizieren. Es nimmt daher nicht wunder, dass nicht nur bösartige Dummköpfe, sondern vor allem psychisch Angeschlagene, narzisstisch Gestörte und ähnliche Personen vom ethischen Veganismus magisch angezogen werden.

Statt sich die eigene „Verrücktheit“ einzugestehen, wird alles dafür getan, die ganze Welt verrückt zu machen, damit man sich selbst für normal und moralisch vorzüglich halten kann. Leider ist zumindest die westliche Welt aufgrund allgemeiner Dekadenz dafür nur allzu empfänglich.

Das wird böse enden.

Lauterbach und Kant

Anfang des Jahres 2022 hatte Karl Lauterbach eine „philosophische Phase“, in welcher er kurz hintereinander Hegel und Kant bemühte, um die Coronamaßnahmen sowie im Speziellen die Impfpflicht zu begründen. Während er von Hegel lediglich einen Satz zitierte, den Hegel nie geäußert hatte, wurde er bei Kant etwas konkreter. Wer die Impfung verweigere, verstoße gegen den Kategorischen Imperativ. Gemeint ist die Gesetzesformel desselben, welche lautet:

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde. 

Lauterbach erläutert diese Formel selbst in seiner Doktorarbeit auf Seite 33. Eine Maxime ist Kant zufolge ein Prinzip des Willens, nicht eine einzelne Handlung oder ein bloßer Wunsch. Verallgemeinerbar müssen die Maximen sein, die der jeweiligen Handlung zugrundeliegen. Maximen sind abstrakter als Handlungen. Nur so ergibt der Kategorische Imperativ Sinn. Wenn ich heute im 23 Uhr schlafen gehe, braucht diese Handlung nicht allgemeines Gesetz werden zu können, um moralisch korrekt zu sein.

Kategorisch oder hypothetisch?

Nun meint Lauterbach, dass eine Verweigerung des Impfangebots „nie die Maxime des Handelns für uns alle sein“ könne. „Wenn wir uns alle weigern würden, die gut erforschte und nebenwirkungsarme Impfung zu nutzen, um uns selbst vor Tod und schwerer Krankheit zu schützen, würden wir die Pandemie wahrscheinlich nie beenden können.“

Die Verweigerung eines konkreten Impfangebots kann tatsächlich nie die Maxime des Handelns für uns alle sein, und zwar deshalb, weil sie nicht abstrakt genug ist. Lauterbach müsste also erst einmal eine Maxime formulieren. Das tut er aber nicht. Statt eines kategorischen Imperativs formuliert er einen hypothetischen Imperativ. Mit der Impfung soll die Pandemie beendet werden. Der Imperativ des Gesundheitsministers lautet also schlicht: „Lasst euch impfen, wenn ihr die Pandemie beenden wollt.“

Mit Kant hat das überhaupt nichts zu tun. Denn laut Kant ist ein Imperativ nur kategorisch, wenn er frei von aller Empirie ist. Es geht nur darum, ob eine Maxime überhaupt zum Gesetz taugt, da sie andernfalls nicht verbindlich ist. Zum Gesetz taugt sie nur dann, wenn sie ohne logischen Widerspruch gedacht oder gewollt werden kann. Kann sie nicht gedacht werden, verletzt sie strenge Pflichten; kann sie nicht gewollt werden, verletzt sie minder strenge Pflichten.

Lauterbachs Maxime – die er uns nicht mitteilt – kann sich nur auf die weniger strengen Pflichten beziehen, denn er will ganz offenbar sagen, dass allgemeine Verweigerung von Covid-Impfstoffen nicht ohne logischen Widerspruch gewollt werden kann. Konsistent denken lässt sie sich allemal. Es wäre nun interessant zu erfahren, wo ein Widerspruch zur ungenannten Maxime vorhanden ist, der es unmöglich macht, die Covid-Impfung nicht zu wollen. Doch dazu schweigt der Minister.

Geht es lediglich um den Zweck, die Pandemie zu beenden, ist kein Platz für kategorische Imperative. Dann diskutiert man über diesen Zweck im Hinblick auf andere Zwecke sowie über geeignete Mittel. Was letzteres betrifft, gibt es sicher bessere Mittel als die Massenimpfung. Lauterbach könnte zum Beispiel zusammen mit der Regierung die Pandemie für beendet erklären oder sich auf präzisere Messmethoden stützen, was die Infektionsraten betrifft (siehe hier, S. 37 ff). Dann wäre die Pandemie sofort verschwunden. Lauterbach brauchte also nur die Resultate von John Ioannidis anzuerkennen, anstatt letzteren als „extrem umstritten“ abzuqualifizieren. Der Kategorische Imperativ ist jedenfalls das Abseitigste, was man in diesem Zusammenhang bemühen kann.

Bock und Melker

Man fragt sich also, was der Bezug auf Kant überhaupt soll. Denn um es für ein triftiges Argument halten zu können, dass die Impfverweigerung gegen den Kategorischen Imperativ verstößt, muss man erst einmal die Kant’sche Ethik für triftig halten. Um dies zu können, muss man Kants Ethik aus eigenem Studium kennen. Das dürfte aber nur bei sehr wenigen Bürgern der Fall sein. Wer keinen Schimmer hat, mag also zu Recht erwidern: „Kant? Kenn ich nicht. Mir doch egal, was irgendein Typ ausgebrütet hat!“ Unter den Sachkundigen wiederum gibt es viele, die der Kant’schen Ethik ablehnend gegenüberstehen. Dort kann ebenfalls keine große Fangemeinde rekrutiert werden. Die Behauptung Lauterbachs wäre also nur für diejenigen von Bedeutung, welche die Kant’sche Ethik sachkundig anerkennen.

Lauterbach wollte aber gewiss nicht das kleine Häuflein kompetenter Kantianer überzeugen, die es im Lande noch gibt. Diese würden aller Wahrscheinlichkeit nicht einmal müde lächeln. Schließlich ist seine Behauptung nichts anderes als das säkulare Pendant zum Spruch „Jesus hätte sich impfen lassen“, über welchen alle Hohlköpfe mit „rational-aufklärerischem Weltbild“ gerne die Nase rümpfen. Genau bei diesen Halbgebildeten will Lauterbach anscheinend Eindruck machen.

Gibt man dieser großen und medial präsenten Schar etwas, womit sie sich überlegen fühlen kann, fällt sie klügelnd über alle anderen her – vor allem in den sozialen Netzwerken. Das hat schon hervorragend mit dem „exponentiellen Wachstum“ funktioniert, von welchem „Coronaleugner“ vermeintlich nichts verstehen. Nun – o Sünde – verstehen sie noch nicht einmal etwas vom Kategorischen Imperativ. Untergang des Abendlandes! Dabei dürfte kaum einer von ihnen jemals nur eine Zeile aus einem Origninalwerk Kants gelesen haben. Der philosophierende Gesundheitsminister und seine imaginären Getreuen geben also – um Kant selbst zu zitieren – den „belachenswerthen Anblick […], daß einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andre ein Sieb unterhält.“ 

Niemals lügen!

Lauterbach hat den Kategorischen Imperativ nicht bemüht, um die Menschheit neutral darüber zu informieren. Er identifiziert sich auch verbal mit selbigem. Die Frage ist aber, wie er dies mit seinem eigenen Tun in Einklang bringen will. Berühmt-berüchtigt ist nämlich Kants vollständige Absage an das Lügen. Hier zeigt sich die unerbittliche Strenge des Kategorischen Imperativs. Eine Welt, in der alle lügen, ist im wörtlichen Sinne undenkbar. Der Begriff der Lüge setzt Wahrheit voraus. Lügen bedeutet, bewusst die Unwahrheit zu sagen. Wenn jeder lügt, gibt es keine Wahrheit mehr, womit es auch keine Lüge mehr gibt. Sein Ziel erreicht der Lügner nur, wenn er als Parasit der Wahrhaftigen agiert. Lügen kann man nur dort, wo es die Nichtlüge gibt. Weil es als Maxime nicht einmal gedacht werden kann, ist Lügen eine Verletzung strenger Pflichten. Kant zieht daraus die Konsequenz, dass Lügen niemals, unter keinen Umständen statthaft ist. Das gilt auch für jegliches „Lügen aus Menschenliebe“.

Allein durch seine Karriere als Politiker gerät Lauterbach in begründeten Verdacht, sich nicht wirklich mit dem Kategorischen Imperativ zu identifizieren, obwohl dieser beim Thema Lügen logisch am stringentesten ist. Auf die Frage eines Interviewers, was falsch daran sei, die Wahrheit zu sagen, antwortete Lauterbach:

Die Wahrheit führt in sehr vielen Fällen zum politischen Tod, ich bitte Sie!

Er spricht hier erfrischend ehrlich aus, was der Fall ist, ohne sich expressis verbis damit zu identifizieren. Das „Ich bitte Sie“ kann so etwas wie „Seien Sie doch nicht so naiv!“ bedeuten – vielleicht auch: Così fan tutteSo machen es alle. Es könnte zwar sein – und ich bin auch davon überzeugt – dass er sich damit selbst zum Lügen lizenziert. Doch das geht nicht eindeutig aus seinem Statement hervor.

Wenn die Wahrheit zu sagen nur in sehr wenigen Fällen nicht zum politischen Tod führt, erscheint aber erklärungsbedürftig, warum ausgerechnet Lauterbach zum Minister aufgestiegen ist, obwohl er immer und überall die Wahrheit sagen muss, wenn er dem Kategorischen Imperativ folgen will. Hat er einfach Glück gehabt? Schützt ihn der Torheit Schild? Oder hat er bisweilen geflunkert, um politisch zu überleben? Alle Lebenserfahrung und Menschenkenntnis spricht für letzteres. Würde Lauterbach mir weismachen wollen, er sei ohne eine einzige Lüge Minister geworden, würde ich ihm sein „Ich bitte Sie“ entgegenhalten. Alle „Aufgeklärten“ im Lande hingegen glauben ihm jedes Wort, denn er ist schließlich nicht nur der größte Mediziner und Epidemiologe, sondern auch der größte Kantianer aller Zeiten!

Das ist die Crux beim Kategorischen Imperativ: Er liegt leicht auf der Zunge, aber schwer im Magen. Ich hoffe, dass er Lauterbach eines Tages den Magen verderben wird.

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